Weniger sind mehr
Form und Inhalt westlich imprägniert und wirken wie Brückenköpfe der westlichen Kultur nach außen.
Im Prinzip ist die Wirkung auch gegenläufig. Und aus Paritätsgründen spricht man gern von einem Austausch der Kulturen. |179| Aber jeder von uns kann selbst ermessen, ob die gewiss reizvollen Praktiken und Produkte aus der Fremde (von Ayurveda und Akupunktur über Verschleierung der Frauen bis zu kollektivistischer Stammes- und Gruppenmoral) für den Westen und seine Probleme attraktiv und interessant wirken – in der gleichen Weise wie etwa AIDS-Medizin, moderne Agrartechnologie und -chemie, Ölförderverfahren, Katastrophenfrühwarnsysteme, wissenschaftliche Universitätsbildung, Geburtenkontrolle, die Gleichberechtigung der Geschlechter für nichtwestliche Kulturen wichtig, problemlösend und zugleich brisant sind. Schon eine lockere Gegenüberstellung ergibt, dass im Austausch der Kulturen die westliche eine ungeheure Dominanz erhalten hat; nicht etwa nach eigenem ethnozentrischen Dafürhalten, sondern gemessen an der »Nachfrage«, die ihr aus anderen Kulturen zuteil wird, und an der faktischen Faszination wie Attraktivität, die sie außerhalb ihrer selbst ausübt.
Dass von den Leistungstüchtigen zu den Leistungsschwachen umverteilt wird, ist, anders als in den USA, ein Grundmuster europäischer Kultur. Es ist für diejenigen leicht zu erlernen, die, wie in Afrika oder Asien, traditionellerweise in kollektive Verpflichtungs- und Haftungssysteme eingebettet sind. Ihre Akkulturation in den europäischen Sozialstaat gelingt meist leichter als die in europäische Berufsleistungssysteme. Die Akkulturation von jedermann, unangesehen seiner Herkunft, steht ohnehin in tiefem Einklang mit der christlichen Ethik der Caritas und grenzenlosen Brüderlichkeit.
Nicht in Einklang steht sie allerdings mit den Interessen der Deutschen, Dänen, Franzosen, die ihre jeweiligen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit im Rahmen nationaler Solidargemeinschaften entwickelt haben und sich diesen Rahmen nicht einfach durch eine universalistische Solidarität mit allen sprengen lassen wollen. Der Rahmen ist ja nicht von ungefähr entstanden, sondern umfasst eine gemeinsame Kultur der Leistung und des gegenseitigen Füreinandereinstehens. Nur wer sich über das Arbeitsleben |180| in die westliche Kultur eingliedert, ist deshalb hier willkommen.
Akzeptiert und respektiert sind allenfalls noch diejenigen, die sich als Träger westlicher Werte wie Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter andernorts geschlagen haben und jetzt im Westen Schutz suchen. Diese politischen Immigranten oder Exilierten – aus dem Iran, aus Afghanistan, aus dem Irak et cetera – werden umso nachhaltiger zu Trägern westlicher Kultur, als ihnen zu Hause Unrecht geschehen und der Weg zurück versperrt ist. Im Vergleich zu den Arbeitsmigranten machen sie aber nur einen kleinen Teil derjenigen aus, die es in den Westen zieht.
Für alle Zuwanderer gilt: Je mehr sie im hiesigen Arbeitsleben Fuß fassen; je mehr der Weg zurück versperrt ist oder sich nicht mehr lohnt; je kleiner die landsmannschaftliche Gruppe, mit der sie im aufnehmenden Land verknüpft sind; je mehr solche Gruppen unterschiedlicher Herkunft nebeneinander bestehen (statt einen großen Block einheitlicher Herkunft zu bilden, der wie von selbst zu einer Gegenkultur würde); je länger die Einwanderer bleiben und hier eine eigene, zweite Heimat bilden; je weniger unterschiedlich und gegensätzlich zur aufnehmenden Kultur die Herkunftskultur der Einwanderer wahrgenommen wird – desto wahrscheinlicher ist es, dass die Einwanderer und ihre Kinder wie Kindeskinder nach und nach zu Trägern der aufnehmenden westlichen Kultur werden. Vorteile, Dankbarkeit und Stolz auf eigenen Erfolg sowie eigene Akkulturation mischen sich. Je erfolgreicher die Akkulturation, also die Übernahme westlicher Lebensformen, desto geringer ihr quantitativer Effekt. Denn die kulturelle Angleichung erstreckt sich nach zwei bis drei Generationen auch auf das Fertilitätsgeschehen: Die Einwandererfamilien bekommen dann genauso wenig Kinder wie die Einheimischen.
Um das »Geburtendefizit« zu füllen, müssten neue Immigranten nachziehen. Und dies geschieht. Die Vorweggezogenen, auch wenn sie in Europa bestens akkulturiert sind, bilden Punkte und Netze der Anziehung. Sie schaffen sich ihre Nachzügler selbst. |181| Nicht die Individuen wandern, sondern Netze, lautet eine Binsenweisheit der amerikanischen
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