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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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oft nur die Spitze des Eisbergs tiefer liegender Ängste. Und hinter den Befürchtungen, militärische und ökonomische Macht einzubüßen, steht eine andere Angst, die sich kaum in quantitativen Größen erörtern lässt: dass die eigenen Lebensformen und die ihnen unterliegenden Werte verschwinden. Dies ist das Entsetzen vor dem Verlust der eigenen Kultur. Es ist eng verknüpft mit der Angst, dass die Menschen, die diese Kultur tragen, durch den Geburtenrückgang immer weniger werden.
    Geburtenrückgang und Kulturverlust sind, wie ich zeigen werde, nicht derart eng miteinander verkoppelt. Die Angst davor aber ist Realität. Sie äußert sich in einer volkstümlichen Kulturkritik, die um konkrete Belege nicht verlegen ist. Sind nicht die Tugenden, denen die westliche Kultur ihren Aufschwung verdankt, im Schwinden begriffen? An die Stelle von Religiosität tritt Materialismus, statt Pflichtgefühl nimmt sich Hedonismus Raum, statt harter Arbeit Freizeitorientierung, statt Verpflichtung auf das Gemeinwohl Individualismus. Zwar lassen sich diese Klischees vom Wandel der Werte über längere Zeiträume hinweg empirisch gar nicht prüfen. Sie überleben aber auch ohne empirische Verankerung im kulturkritischen Selbstverständnis des Westens.
    Die Vorstellung, dass die gesellschaftliche Entwicklung in ihrem Erfolg selbst die Basis unterhöhlt, auf der sie beruht, ist tief verwurzelt. Schon Denker des 19. Jahrhunderts wie Karl Marx und Max Weber sahen in der Dynamik der westlichen Kultur einen Mechanismus der Selbstzerstörung am Werk. Marx prognostizierte den Umschlag vom Kapitalismus in den Sozialismus. Max Weber vermutete subtiler, dass der Kapitalismus das protestantische Arbeitsethos, das ihn hervorgebracht habe, zwar aufzehre, auf die Dauer aber auch nicht mehr brauche. Er lebe aus eigener Dynamik fort. Damit tritt hinter dem Mechanismus der Selbstzerstörung eine gegenläufige Bewegung des Selbsterhalts hervor. Auf diese Bewegung werde ich im Folgenden meine Aufmerksamkeit konzentrieren.
    Der Selbstzerstörung von Kultur die Strategien ihres Selbsterhalts |169| entgegenzustellen, ist eine Sache. Dass sie vorhandene Ängste bannt, ist kaum anzunehmen. Ängste suchen sich immer neuen Grund. Die Kulturverlustangst hat ihren aktuellsten schon gefunden: im Geburtenrückgang, der es absehbar macht, dass die Menschen, die die westliche Kultur tragen, immer weniger werden. Geburtenrückgang ist ein Produkt der westlichen Kultur selbst. Insofern fällt es leicht, den Gedanken von der Selbstzerstörung beziehungsweise Selbstentmannung der Kultur auch auf ihn anzuwenden. Sowohl der Verlust von grundlegenden Werten wie auch von Menschen, die diese Werte tragen, sind also von der westlichen Kultur selbst gemacht.
    Die beiden Verlustängste im Innern steigern sich allerdings noch durch den Blick nach Außen, es kommt die Angst vor anderen Kulturen hinzu. Auch sie ist eine doppelte Angst: vor Wert- und Lebensformen und vor Menschen. Verfügt der Osten nicht über die Werte, die im Westen scheinbar verloren gehen: Religiosität, militärischen Opfermut, Familien- und Gemeinschaftssinn, Fleiß, Unterordnung und Bescheidenheit? Und gewinnt der Osten durch Geburtenüberschuss nicht auch die Menschen als Wertträger, die im Westen gar nicht mehr geboren werden? Ja, schickt er sie nicht sogar als die Sendboten seiner Kultur in großer Zahl in den Westen? Wer sich als Tourist etwa nach Algerien, Ägypten oder Indien traut, der wird sich von der sprudelnden Lebenskraft dieser kinderreichen Kulturen teils angezogen, teils geniert fühlen. Wer zuhause bleibt, hat sich vielleicht schon an die muslimischen Kinder gewöhnt, die in Scharen, manchmal mit ihren Müttern, die Parks, Wartezimmer und Schulhöfe bevölkern, in ihrem Temperament schwer zu bändigen, in ihrer Sprache kaum zu verstehen. Ein Gewinn für die eigene Kultur, kann man sagen. Und doch auch ein Verlust des öffentlichen Raumes, also eines Raumes der eigenen Kultur. Verstörung ist unausweichlich. Durch Toleranz, Wohlwollen und eingeübte Urbanität mag sie unterdrückt werden. Aber gerade im Spannungsfeld zu diesen Paradewerten des Westens erhält sie sich auch.
    |170| Kulturen und Geburten: Stabilisierung inbegriffen
    Was sind Kulturen? Sie basieren nicht auf Menschen, sondern auf Beziehungen zwischen ihnen. Sie sind keine abstrakten Begriffe, sondern haben bestimmte Lebensformen angenommen. Sie sind so zu anschaulichen Beziehungen geworden, geronnen oft in Symbolen und

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