Weniger sind mehr
der primären Sozialisation oder Enkulturation geht wie von selbst.
Wenn sich verschiedene Kulturen gegenüberstehen, annähern, austauschen, vielleicht auch in einen Wettstreit treten, sich beargwöhnen (und auch bekämpfen), zeigt sich, wie sehr die Enkulturation des Nachwuchses mit Wert gefüllt ist. Denn jede Kultur ist im Vergleich zu anderen vom Vorzug ihrer selbst tief durchdrungen. Die »Präferenz für das Eigene« wiederholt sich mit jeder individuellen Geburt. Eltern können nicht anders, als den eigenen Kindern im praktischen Leben den Vorzug zu geben – mögen sie auch von dem Wert der Gleichbehandlung aller Menschen überzeugt sein. Als Neugeborene und Heranwachsende können wir nicht anders, als den Regeln der eigenen Kultur, die uns Orientierung geben und Grenzen setzen, vor allen denkbaren Alternativen den Vorzug zu geben. Denn sie umgreifen und durchdringen uns, bevor wir uns dessen bewusst werden und bevor wir sie aus freien Stücken bewerten und uns für oder gegen sie entscheiden können.
Diejenigen, die eine solche Lebensform – man könnte sagen: eine Heimat – zunächst unbewusst teilen, bestätigen sich deren Vorzug gegenseitig und gelangen so zu der Erfahrung einer gemeinsamen, eigenen Kultur. Deren Eigenheit wird umso stärker |173| erlebt und vorgezogen, je deutlicher ihre Differenz zu anderen Lebensformen hervortritt. Und immer ist mit dem Wertgefühl für die eigene Kultur auch die Vorstellung verbunden, dass sie durch eigene Kinder getragen und weitergetragen wird. Wenn die Geburtenrate sinkt, wächst die Angst, dass die eigene Kultur ihre Träger und wir unsere Heimat verlieren: Heimat als die erlebten Orte der Kindheit, aber auch, im größeren Rahmen, als die zivilisatorischen Werte der westlichen Welt. Zu dieser Angst kommt eine zweite hinzu: dass die anderen, kinderreichen Kulturen dem offenen Westen sein eigenes Terrain streitig machen. Kann die westliche Kultur sich dagegen behaupten, auch wenn die Geburtenrate fällt?
Die Expansion des Westens
Dass die Kreuzzüge die westliche Kultur in den Orient getragen hätten, wird man kaum irgendwo lesen können. Einzelne Gewaltaktionen sind kein geeignetes Mittel des Kulturtransfers. Und ob die Lebensformen Europas denen des Nahen Ostens vor 800 Jahren in irgendeiner Weise überlegen waren, ist mehr als fraglich. Das änderte sich im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Viele soziale Kräfte wirkten in Europa unbewusst zusammen und brachten den Kontinent in einen Schwung, der rückblickend als ein sich selbst tragender und fortzeugender Aufschwung interpretiert werden kann. Die Dynamik erwies sich als überschießend. Missionare, Militärs, Kaufleute, Ärzte, Verwaltungsbeamte trugen europäische Güter und Lebensformen nach außen – mit einem dauerhaften Nachdruck, der später als Kolonialismus und Imperialismus gebrandmarkt wurde und sich quasi selbst ad absurdum führte und aufhob. Denn mit seinen Herrschaftsformen und der faktischen Fremdherrschaft brachte Europa auch die Legitimationsformen, die damit nicht in Einklang standen: die Lehre von der Würde, der Gleichheit und der Selbstbestimmung aller Menschen.
|174| Erst als diese europäischen Werte sich in den Kolonien mit den elementar-universalen Selbstbehauptungskräften der kolonisierten Kulturen verbündeten, gewannen diese ihrerseits genug Energie, um die europäische Herrschaft abzuschütteln. Das Vorbild und Exempel statuierte Amerika – gleichzeitig aber bildete es auch einen bezeichnenden Sonderfall, denn nicht nur die Werte, die sich gegen Europa – und von ihm ab – wandten, waren europäischer Herkunft, sondern auch die Bevölkerungen; Europa hatte Amerika seine Werte bereitgestellt und die Menschen gleich mit, während die Ureinwohner Amerikas zur Bedeutungslosigkeit dezimiert und zurückgedrängt wurden.
In der übrigen Welt vollzog sich der kolonialistische Kulturtransfer Europas weniger über Auswanderer als über bestimmte Agenten – Missionare, Soldaten, Händler, Beamte –, die, mit Ausnahmen wie in Südamerika, zu den Einheimischen und ihren Lebensformen Distanz hielten. Im Zuge der Entkolonialisierung wurden sie deshalb auch zum Teil zurückgetrieben. Bei den befreiten Völkern aber, die der europäischen Kultur sowohl ihre Unterdrückung wie auch ihre Unabhängigkeit verdankten, blieb eine tiefe Ambivalenz zurück.
Einerseits kann sie sich auflösen. Denn kulturelle Errungenschaften des Westens werden nun nicht mehr
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