Weniger sind mehr
beruht allerdings auf einer gewagten Annahme. Nennen wir sie die Hypothese von der partialen Akkulturation oder partialen Integration. Sie besagt, dass sich aus einer Kultur bestimmte Teile – Waren, Waffen, Wissen, Werte – nach Wunsch herausziehen und in eine andere einpassen lassen; wie ein Mensch, der dem einen oder anderen Herren dienen kann. Aber die wandernden Waren und Technologien haben, wie wandernde Menschen, unwillkürlich auch unerwünschtes Gepäck aus ihrer Herkunftskultur dabei. Sie geben es den Empfängern mit, ohne |177| dass diese es merken, und verändern sie dadurch: Wer aus dem Westen Maschinen und Forschungspraktiken übernimmt, führt damit gleichsam nebenbei auch Hochachtung für Neuerungen und Geringschätzung des Alten ein.
Die jungen chinesischen Unternehmer, die heute auch in den Reportagen westlicher Fernsehsender zu sehen sind, strahlen diese Umwertung der Werte aus. Während scheinbar nur technologische Teile der westlichen Kultur in Asien erfolgreich integriert werden, bringt deren Erfolg auch andere Charakteristika westlicher Kultur zum Blühen, die sich mit asiatischen Werten nicht vertragen, ja diese sogar aushöhlen: Konsumrausch und Genusssucht, Drogen, individueller Eigensinn statt Unterordnung in der Gruppe, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gottlosigkeit und Zweifel. Kurz: Die Kulturen, die vom Westen nur den kleinen Finger wollen, müssen schließlich feststellen, dass er womöglich seine ganze Hand, und zwar überall, im Spiel hat.
Noch ambivalenter und konflikthafter wird die kulturelle Expansion des Westens dort erlebt, wo man ihm zwar geografisch und religiös – den gleichen Gott anbetend – näher, in Bezug auf die Verträglichkeit der Kulturen aber ferner steht: In Maghreb und im Vorderen Orient. Von hier gehen die gewaltsamen, terroristischen Reaktionen auf das kulturelle – neuerdings auch wieder unübersehbare militärische – Vordringen des Westens aus. An den Schnittstellen zwischen islamischen und christlichen Kulturen ist der Kampf der Kulturen (
clash of civilizations
) auch militärisch und paramilitärisch kaum gebremst.
Huntington, der dies in seinem viel geschmähten Buch über den
Kampf der Kulturen
prognostiziert hatte, wird von der Wirklichkeit eingeholt und überholt, auch wenn viele Traumtänzer dies noch immer nicht wahrhaben wollen. Der Übergang des Kulturkampfes in einen gewaltsamen Kampf besagt allerdings nicht, wie es mittlerweile europäische, gar päpstliche Auslegung geworden ist, dass die islamischen Kulturen des Vorderen Orients an sich und qua religiöser Fundierung die gewaltsameren seien. Es sind |178| lediglich Kulturen, die der kulturellen Verwestlichung und militärischen Präsenz des Westens besonders unmittelbar, ja ungeschützt ausgesetzt sind – und das mit einer mehrheitlich jugendlichen Bevölkerung, für die die Versprechen des Westens nach besseren Lebenschancen bisher weitgehend unerfüllt geblieben sind.
Der Westen stößt so die Jungen ab, die eigentlich von ihm angezogen waren und sind. Ein Teil von ihnen – bezeichnenderweise gerade die technische Intelligenz – kommt zu dem Schluss, die westliche Kultur als Ganzes abzulehnen und sich an einem islamischen Fundamentalismus zu orientieren, der weniger traditionell und originär als vielmehr reaktionär ist: eine Reaktion nämlich auf das zugleich vereinnahmende und doch frustrierende Vordringen des Westens. Mag der islamische Fundamentalismus denn die westliche Kultur auch in Bausch und Bogen ablehnen, so ist er aufgrund seines kämpferischen Habitus doch darauf angewiesen, westliche Waffen-, Kommunikations-, Organisations- und Kapitalbildungstechnologie zu übernehmen. Mit ihrer Hilfe die bevorzugte islamische Wertewelt zu stärken, ist die Absicht. Unbeabsichtigt aber verwandeln sich in demselben Vorgang diejenigen, die gegen den Westen kämpfen, dem Westen an.
Wie oberflächlich oder nachhaltig diese Anverwandlung ist – die Frage erscheint naheliegend, ist aber nicht wirklich bedeutsam. Wichtiger ist die Einsicht, dass sie tatsächlich beständig und zwingend erfolgt, solange die Kulturen sich austauschen und auseinandersetzen; das heißt: praktisch unablässig. Denn aus dem wirtschaftlichen, politischen, kommunikationstechnologischen, medizinischen Interaktionsnetz, mit dem der Westen die Welt überzogen hat, gibt es kein Entrinnen mehr. Ob man nun die Interaktionen positiv aufnimmt oder ins Feindselige wendet: Sie bleiben auf den Westen bezogen, in
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