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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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bedeutungsvollen Gegenständen. Während die Geburt an sich in allen Kulturen eine Verbindung zwischen Mutter, Kind und anderen Menschen begründet und insofern ein elementarer sozialer Prozess ist, wird sie zu einem kulturellen Phänomen erst durch die besonderen Beziehungen und Umstände bei der Geburt; in der westlichen Kultur sind das etwa die Hebamme, neuerdings die Anwesenheit des Vaters, der Kreißsaal, das zuhause eingerichtete Kinderzimmer und Ähnliches.
    Jede Kultur lässt sich in fünf Dimensionen fassen. Sie enthält erstens ein
Werten
oder
Urteilen
. Jede Lebensform ist durchdrungen von Vorstellungen darüber, was gut und richtig oder böse und falsch ist. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff, erklärte schon Max Weber. Man kann Kultur als Inbegriff oder Zusammenfassung aller Wertungen oder Leitwerte, etwa der Effizienz, der sozialen Sicherheit, der Liebe et cetera auffassen – und hat damit schon eine Vorstellung von westlicher Kultur. Aber Vorsicht! Es unterschätzt eine Kultur, sie auf die Summe von so großen und relativ abstrakten Wertformen einschränken zu wollen. Denn das Werten ist ein unablässiger sozialer Prozess, der auch in den kleinsten Lebensformen beständig anhält. Eine Kultur gibt nicht nur die großen Linien der Moral vor, sondern leistet auch die moralische Feinarbeit, indem sie alles, was vorgeht, unweigerlich auf- und abwertet oder urteilt. Jeder Kultur wohnt eine Präferenz für die eigene und eine Diskriminierung anderer Lebensformen inne.
    Die zweite Dimension, durch die eine Kultur gekennzeichnet wird, ist die des
Teilens
. Kulturen unterscheiden zwischen denen, die ihre Wertungen teilen, also dazugehören, und denen, die davon |171| abweichen, also außen vor bleiben und zu einer anderen Kultur gehören. So wie es in allen Kulturen ein Gesetz der Präferenz fürs Eigene gibt, so auch ein Gesetz der Konformität oder kollektiven Identifikation.
    Keine Kultur könnte sich ihrer Wertungen und Zugehörigkeiten beziehungsweise Abgrenzungen bewusst sein, wären da nicht die Abweichungen und die anderen Kulturen. Und erst in der Auseinandersetzung mit ihnen wird das Eigene wahrgenommen, ja betont; es manifestiert sich. Normalerweise aber lebt es im Geborgenen und
Verborgenen
. Dieses ist die dritte Dimension. Dass sie eine Kultur haben oder gar mehreren Kulturen angehören, davon wissen die meisten Menschen so wenig wie die Fische vom Wasser. Der ursprüngliche Zustand der Kultur ist die Latenz. Ihr Grundgesetz ist das Tabu, das ihr Heiligstes und Innerstes vor Enthüllung und Berührung schützt.
    Die vierte Dimension des Kulturellen ist das
Erwidern
. Kulturen erfahren sich erst in der Gegenseitigkeit, in der Begegnung und Gegnerschaft mit andern. Indem sie auf ein Nehmen oder Geben der anderen Seite erwidern, stehen sie sowohl im Austausch wie auch zugleich im Konflikt miteinander. Es ist konstitutiv für Kulturen, sich die Werte anderer anzueignen und eigene abzugeben. Ein und derselbe Prozess kann, je nach Präferenz und Wahrnehmung, als Ausgleich oder als Kampf empfunden werden. Das moralische Grundgesetz, das ihm unterliegt, ist das der Reziprozität oder der Gegenseitigkeit.
    Die fünfte Dimension des Kulturellen ist die des
Bestimmens
und
Bestimmtwerdens
. Sie sichert die Kontinuität der Kultur im Laufe der Zeit. Das Unbestimmte der Zukunft verwandelt sie – im Augenblick der Gegenwart – in Bestimmtes und schlägt es den Bestimmtheiten der Herkunftskultur zu. Umgekehrt versucht sie das Herkünftige in die Zukunft hineinzuretten. So strebt eine Kultur danach, Macht und Steuerung ihrer selbst zu bewahren – angesichts der Übermacht der Zeiten. Man kann die Selbststeuerungs- und Kontrollfähigkeit einer Kultur aber nicht |172| daran ermessen, dass alles so bleibt, wie es ist. Vielmehr geht es darum, dass Kontinuität, Austauschbeziehungen, Tabus, Zugehörigkeiten und zentrale Wertungen als Funktionsmechanismen und Problemlösungen erhalten bleiben, auch wenn sich die Dinge im Einzelnen wandeln.
    Kein Mechanismus kann den Erhalt einer Kultur so elegant gewährleisten wie die Geburt eigener Kinder. Denn in der Erziehung eigener Kinder werden die Wertungen, Zugehörigkeiten, Tabus auf eine unbewusste und ungewollte Weise weitergegeben, das heißt mit den Mitteln der Kultur selbst. Sie erreichen die kommenden Träger der Kultur bereits, bevor diese ein eigenes Bewusstsein und ein eigenes Bestimmenwollen entwickeln, also auch bevor sie sich wehren können. Der Prozess

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