Weniger sind mehr
Abhilfemaßnahmen in Gang. In jedem Fall führt sie Geschädigte, Erschreckte und Empörte zusammen: die Wortführer der aufnehmenden Gesellschaft und die der Einwanderer. Diese haben ein existenzielles Interesse an Friedfertigkeit und geraten unter den Druck, sich gegenüber den jugendlichen Gewalttätern als Autoritäten zu erweisen; gelingt dies, wächst ihnen eine quasi-offizielle Funktion im Integrationsprozess zu.
Zu der allgemein »anerkannten« Funktion von Gewalt gehört, dass man ihr auf den Grund geht, ihre Ursachen auflöst, sich den Gewalttätern zuwendet, sie auf den rechten Weg bringt und im guten Sinne akkulturiert. Gelingt dies oder wird zumindest die Gewalt zum Schweigen gebracht, dann bedeutet das eine Genugtuung sowohl für die Migranten wie auch für die aufnehmende Mehrheitsgesellschaft. Eine latente Funktion von Gewalt aber wird kaum erkannt: Es ist die meist unbewusst und unausgedrückt bleibende, nichtsdestoweniger von vielen geteilte kollektive Gefühlsneigung, den Gewalttäter nicht nur zu bestrafen und ihn damit aber hier zu halten und zu integrieren, sondern ihn auszustoßen.
In der deutschen Kultur, die über sehr stark einbindende Züge verfügt, wird dieser Neigung kaum nachgegeben. Spektakulär bekannt wurden nur zwei Fälle: die Ausweisung des Kalifen von Köln und die des nicht zu bändigenden jugendlichen Wiederholungstäters »Mehmet«. Dabei ist die gelegentliche Ausweisung als Symbol für abgebrochene und gescheiterte Akkulturation ein wirksamer Katalysator und Verstärker für Akkulturation selbst. Die Ausweisung trifft nur wenige individuelle Fälle. Die Wirkung auf den Prozess der Akkulturation aber ist eine kollektive. Kaum ein Vorgang erregt die kollektiven Gefühle einer Gruppe beziehungsweise |195| Kultur so sehr wie das Verstoßen und Verstoßenwerden als Reaktion auf eine Missachtung der konstitutiven Werte der Gruppe. Wer die Gruppe und ihre zentralen Werte nicht anerkennt, dem wird die Mitgliedschaft aberkannt. Der moderne Staat hat sich dieser schärfsten Sanktion begeben. Bürger, also Mitglieder der Gruppe, darf er nicht mehr ausweisen, und nur sehr selten werden Zuwanderer verbannt, weil sie diesen Staat ablehnen und sich nicht zum Träger seiner Kultur machen wollen. Je seltener der Fall eintritt, desto mehr erregt er aber die kollektiven Gefühle. Den moralischen Empfindungen der Mehrheit verschafft er Genugtuung und wird zu einem Symbol der Selbstbehauptung und Stärke. Für marginale Gruppen wirkt er als Warnung.
Für eine Kultur wird die Ausweisung und/oder Zurückweisung von Kulturfremden und -gegnern symbolisch und praktisch umso bedeutsamer, je stärker hinter individueller Befremdung und Gegnerschaft eine kollektive Entfremdung, ja Feindseligkeit aufscheint. Der Einzelne kann an dieser kollektiven Entfremdung völlig unschuldig sein, sich ihr gar entgegenstellen wollen – und wird doch in sie hineingezogen. Die Entfremdung ist in der Regel auch keine Folge von Entfernung, sondern im Gegenteil von Annäherung. Je näher man einander rückt und je mehr man voneinander erfährt, desto fremder wird man sich. Erst wenn die Integration von Muslimen in die europäische Gesellschaft von allen Seiten als wünschenswert erklärt wird, wird das Wissen, dass eine muslimische Frau aus religiösen Gründen keinen Nichtmuslim heiraten darf, zu einer Quelle von Befremdung und gegenseitiger Ablehnung.
Wo sich terroristische Anschläge mit islamistisch-politischer Begründung in aller Welt häufen und wo die Kriegsschauplätze zwischen westlichen und islamischen Staaten und Kulturen eher mehr als weniger werden, lässt diese Politisierung und Globalisierung des kulturellen Konflikts die alltäglichen lokalen Akkulturationsprozesse nicht unberührt. Unter verstärktem politischem Druck von außen werden sie polarisiert: beschleunigt oder abgebrochen |196| . So geschehen in Deutschland im Ersten Weltkrieg, als es Hunderttausende von polnischen Arbeitern in ihre Heimat zurückzog, die übrigen aber, um den Feindseligkeiten ihrer deutschen Umgebung zu entgehen, sich als ethnische Gruppe gleichsam in ihr verflüchtigten. Letzteres wählten während beider Weltkriege auch die Deutschen in Amerika. Ethno-kulturelle Eigenarten oder Parallelgesellschaften lassen sich schwerlich kultivieren und aufrechterhalten, wenn ihre Träger unter Verdacht stehen, mit dem äußeren Feind zu sympathisieren.
Angesichts islamisch-fundamentalistischer Kritik am Westen und religiös-politisch
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