Weniger sind mehr
Erscheinungen auf den Grund zu kommen. Die erste Ursache könnte auf die Formel gebracht werden: »Erfolgreiche Akkulturation – aber Scheitern am Arbeitsmarkt«. Die erste Generation der Zuwanderer – die typischen Gastarbeiter der sechziger Jahre – war, wie hätte es anders sein können, kaum akkulturiert. Indessen enthielt dieses Manko für sie selbst wie für die deutsche Gesellschaft keinerlei Brisanz. Die Gastarbeiter waren in der deutschen Gesellschaft beruflich eingebunden – »integriert« – und blieben kulturell ausgegrenzt, verhaftet ihrer Herkunftsgesellschaft, in die sie |188| zurückwollten und sollten. Darüber gab es einen umfassenden Konsens.
Dies änderte sich, je länger sie blieben. Mit fortschreitender Modernisierung der Wirtschaft wurde ihre berufliche Qualifikation – und die ihrer im bildungsfernen Milieu aufgewachsenen Kinder – unzureichend; unverhältnismäßig viele, rund 25 Prozent, wurden – oder blieben als Söhne und Töchter – arbeitslos, also beruflich desintegriert. Aber gerade die Jüngeren waren, da hier groß geworden und zur Schule gegangen, weitgehend akkulturiert: mit allen in Deutschland offiziell stark gemachten Erwartungen der Nichtdiskriminierung, Rechtsgleichheit, der gleichen Chancen für alle. Ihre Enttäuschung beruht nicht darauf, dass sie sich die Werte und Ziele dieser Gesellschaft nicht zu eigen gemacht hätten, im Gegenteil, er rührt aus der Diskrepanz zwischen diesen Werten und den wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Mit der abwegigen Vorstellung, man müsse den Einwanderern noch mehr Deutschsein und offizielle Zugehörigkeit offerieren, verschärft die deutsche Politik das Problem der nicht erfüllbaren Erwartungen, statt es zu lösen. Denn Politiker und moralisch Wohlmeinende können die fehlenden Arbeitsplätze nicht schaffen; sie sind relativ ohnmächtig angesichts der Selbststeuerung des Wirtschafts- und Berufssystems. Ähnlich machtlos sind sie gegenüber der Selbststeuerung des Bildungssystems. Zwar können sie eine bessere Qualifikation für die bildungsferneren Schichten fordern und auch entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Ob aber die vom Bildungssystem erzeugten Wertansprüche – Kultur im engeren Sinne – nicht den Erfüllungsmöglichkeiten vorauseilen, liegt nicht in der Hand eines einzelnen Systems, sei es Politik, Wirtschaft oder Bildung selbst. Akkulturation ist in jedem Fall nicht die Lösung, sondern selbst das Problem. Der Schlüssel liegt in den Arbeitsplätzen, die das Wirtschafts- und Berufssystem schafft oder vernichtet; genauer in einem liberalen Selbstverständnis, das dem Einzelnen selbst die Eingliederung ins Arbeitsleben ermöglicht und überantwortet und ihm als Alternative nicht nur die |189| »Integration in Hartz IV«, sondern auch und eher den Rückzug aus dieser Gesellschaft ansinnt. Mit anderen Worten: Der Maßstab für den Erfolg von Akkulturation ist nicht Akkulturation an sich, sondern Integration ins Arbeitsleben. Wenn sie dauerhaft gelingt, folgt Akkulturation von selbst.
Gelingt sie nicht, bedeutet das nicht, dass Akkulturation misslingt. Aber sie führt zu einer Gegenbewegung. Dekulturation wäre dafür nicht das passende Wort. Besser trifft es Anti-Kulturation. Das ist der Ausweg, den die beruflich nicht oder kaum integrierten, dagegen durchaus akkulturierten Einwanderer der zweiten und dritten Generation selbst suchen. Es ist folgerichtig, dass sie sich von einem Wertsystem abwenden, das ihnen mehr verheißt, als es halten kann. Wohin sonst sollten sie sich wenden, als zu einer Herkunftskultur, die als islamische zwar auch einen universalistischen Anspruch erhebt, aber qua Tradition Frauen und Männern ihren sozialen Platz zuweist und nicht immer wiederkehrend infrage stellt.
Dass die westliche Kultur mit ihren scheinbaren Scham- und Respektlosigkeiten, Autoritäts- und Verbindlichkeitsverlusten, in ihrer Pietätlosigkeit, in ihren Vereinzelungen und exzentrischen Auswüchsen abgelehnt wird, bedeutet nicht, dass sie abgelegt würde. Dies ist den Kritikern gar nicht mehr möglich. Und selbst wenn sie verbal abgelehnt wird, geschieht dies selten in Bausch und Bogen, sondern in der Regel in rationaler Abwägung. Ihre nützlichen Elemente, insbesondere die für Minderheiten lebenswichtige Toleranz, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit, sozialstaatliche Stützung und die Inschutznahme gegenüber der gelegentlich sich kristallisierenden Wut der Mehrheiten, werden gern in Anspruch genommen, wenn es der
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