Weniger sind mehr
dass Akkulturation wie andere soziale Prozesse auch ihre Gegenläufigkeit in sich trägt und erzeugt.
Im Grunde sind allen Beteiligten die ungleichen Machtverhältnisse bewusst, insbesondere den Einwanderern selbst, denn Minderheiten entwickeln ein lebenswichtiges Gespür für Machtunterschiede. Die intellektuellen und politischen Wortführer der Aufnahmegesellschaft dagegen scheinen sich und andere darüber hinwegtäuschen zu wollen. Vom universalistischen Gedanken der Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Kulturen beseelt, suggerieren sie eine Akkulturation ohne die Vorrechte der Mehrheitsgesellschaft. In dieser Ignoranz drohen sie der Akkulturation den Boden klarer Macht- und Mehrheitsverhältnisse, ohne den sie nicht möglich ist, zu entziehen. Dagegen ist es gerade die Aufgabe kluger Einwanderungspolitik, diese Verhältnisse klar und bestimmt, aber nicht auftrumpfend |201| immer wieder herzustellen. Einwanderung ist quantitativ und qualitativ so zu lenken, dass die Aufnahmeländer von der Integrationsaufgabe nicht überfordert werden und die Einwanderer zu Trägern ihrer Kultur machen können. Darin könnte sich eine Zukunftsaufgabe, wenn nicht sogar eine »weltpolitische Sendung des alten Europa erfüllen«. 14
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|202| Kapitel 6
Das Individuum ohne Kinder
Wirtschaft, soziale Sicherung, Familie und sogar Kultur überleben nicht nur den Fall der Geburtenrate, sie wachsen daran, machen das Beste daraus, erfüllen ihre Aufgaben besser als zu Zeiten des Kinderreichtums. Vielleicht sind Sie als Leser diesem meinem Grundgedanken bis hierhin gefolgt. Widerstreben und Unwohlsein haben Sie dabei womöglich noch mehr begleitet als den Autor selbst. Denn auch ihm wurde ja zugemutet, die ungewöhnliche und ungemütliche Perspektive des Selbsterhalts sozialer Systeme einzunehmen, so als ob diesen nicht nur Selbsterhaltungs- und Handlungsmotive, sondern auch ein Wert an sich innewohnten. Unser Denken und Fühlen im Alltag und meist auch in den Lebenswissenschaften ist aber nicht auf den Sinn von sozialen Systemen, sondern auf Menschen ausgerichtet. Es kreist um das Wohl und Weh, die Erhaltung und Gefährdung des individuellen Lebens, wenn nicht um unser persönliches Glück und Unglück. Der Fall der Geburtenrate mag zwar von sozialen Funktionssystemen »verarbeitet« und unschädlich gemacht werden, aber trotzdem die Menschen ins Unglück ziehen.
Wenn es denn ein Glück ist, geboren zu werden und selbst Kinder zu haben, so wird dieses Glück im Fall der Geburtenrate immer weniger Menschen zuteil. Unbestreitbar gehört es zur menschlichen Natur, Kinder zu zeugen, großzuziehen, die dazu notwendige Arbeit und Mühe zu teilen und den Kranken, Älteren und Sterbenden ein Geleit zu geben. Diese Vorgänge gehen allen Reflexionen über Sinn und Kontinuität des Lebens voraus. Sie |203| erscheinen aber nie als »reine« Natur, sondern immer geprägt und gestaltet durch Vorgaben, Sinngebungen und Zielsetzungen, Werkzeuge, die im Zusammenleben entstehen, kurz: durch Kultur. Kultur als zweite Natur ist untrennbar mit der ersten Natur des Menschen verwoben und ändert diesen selbst. Sie macht aus den Gruppenwesen, das alles mit anderen teilt, eine unteilbare, besondere Erscheinung: das Individuum.
Es sind drei Aspekte der soziokulturellen Evolution, die aus der Horde oder Urgruppe das Individuum hervorbringen. Zunächst die Aufgliederung von Aufgaben. Der Vorgang ist uns bereits als funktionale Differenzierung oder Bildung von Subsystemen vertraut. Er führt dazu, dass jeder Mensch nur mit einem Teil seiner Selbst – mit einer Rolle – an jedem Aufgabenbereich teilnimmt, dadurch aber auch in vielen solcher Bereiche zugleich vertreten ist. Er wird auf diese Weise in sich selbst differenzierter, vielgestaltiger, unterscheidbarer von anderen, einzigartiger: Georg Simmel hat dies beschrieben als die Geburt des Individuums aus sich überschneidenden sozialen Kreisen. 1 Das Individuum entwickelt nicht nur ein gesteigertes Gefühl seiner selbst, es profitiert auch von der gesteigerten Fähigkeit der funktionalen Subsysteme, Probleme zu lösen beziehungsweise Werte zu erfüllen, besser, als es die diffuse Gruppe konnte.
Ein sichtbares und messbares Anzeichen der gesteigerten Problemlösungsfähigkeit sozialer Systeme ist die Verlängerung des individuellen Lebens. Eine verlängerte persönliche Lebensspanne ist die zweite Voraussetzung für Individuation. Ohne ein längeres Leben
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