Weniger sind mehr
Gewalt greifen, oft bereits selbst |192| Opfer von Akkulturation. Die durch den Mord an der Tochter Hatun zu trauriger Berühmtheit gelangte Berliner Familie Sürücü zeigt nicht das Bild eines dominant autoritären Vater-Brüder-Clans, sondern eher das eines schwachen Vaters, dessen Söhne sich bereits auf verschiedenen Wegen, auch in Universitäten, verwestlicht haben.
Um aus den schaurigen Ausnahmefällen der Ehrenmorde zurückzufinden in die Normalität der islamischen Familien in Deutschland: Untersuchungen zeigen, dass die Frauen, obwohl Träger innerfamiliaren Kulturkonflikts, sich zum großen Teil in ihrer Herkunftsfamilie geborgen und gut aufgehoben fühlen. Die Familien als Ganze sind in einem Akkulturationsprozess begriffen, in dem unterschiedliche Mitglieder, meist die jungen Frauen, eine Art Führungsrolle übernehmen, ohne aber die Rücksicht auf den Gesamtkomplex der Familie zu verlieren. Die jungen Frauen zwischen 15 und 21 Jahren in Migrationsfamilien leben überwiegend bei ihren Eltern. Ihnen gegenüber setzen sie im Konfliktfall auf »defensive Durchsetzungsstrategien« – Überzeugen, Einschalten der Mutter, um den Vater zur Einsicht zu bringen; Beratungen mit Vertrauenspersonen außerhalb der Familie. Selten wählen sie den Alleingang oder versuchen, Verbotenes heimlich, ohne Einverständnis der Eltern zu tun. Zwar sind Mädchen türkischer Herkunft deutlich weniger freizügig als ihre italienischen und griechischen Gleichaltrigen und können sich nur zu 13 Prozent vorstellen, mit einem Partner vor der Heirat zusammenzuwohnen. Aber die arrangierte Ehe, bei der die Eltern den Partner mit auswählen, lehnen sie zu 90 Prozent ab.
Insgesamt zeigt sich ein Bild starker Gebundenheit und Geborgenheit in der Familie; auf dieser Grundlage ziehen die jungen Frauen ihre Eltern behutsam-diplomatisch und sehr allmählich in die Wertewelt des Westens mit hinein: Agentinnen einer Akkulturation, die viel Zeit und Feingefühl erfordert, in einzelnen aufsehenerregenden Fällen scheitert, zumeist aber unauffällig ihren Gang nimmt. 10
|193| Anders als die jungen Frauen aus Migrationsfamilien wenden ihre Brüder Enttäuschungen über ausbleibenden Erfolg und mangelnde Anerkennung häufiger gewaltsam nach außen. Es ist ihre Art, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aufmerksamkeit der Mehrheit, auch wenn sie in Abwertung und Empörung erfolgt, enthält immer auch Anerkennung. Gewalt, mag sie noch so sehr verurteilt werden, schafft sich immer auch ihre Anerkennung, sei es durch Angst, Ablehnung, Gegenaggression. Gerade weil die westliche Kultur sich gleichsam durch die Abwesenheit von Gewalt definiert, verschafft sie damit der verbleibenden oder sich neu entwickelnden Gewalt einen Sonderstatus.
Als unterdrückte und dunkle Seite bleibt Gewalt Bestandteil jeder Kultur. Jede Kultur drückt Gewalt einen eigenen Prägestempel auf. Martialisch gestiefelte Aufmärsche der Rechtsradikalen und brennende Asylheime: Das ist deutsche Gewalt. Aufgerissene Pflaster und brennende Pkws in den Vorstädten: Das ist französische Gewalt.
Die jungen Franzosen kultivieren eine Form der Straßenrevolte, die seit 1789 den Mythos des Bürgers auf den Barrikaden aufrechterhält. Die zivilisiert-gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen und Obrigkeit gehört zur französischen politischen Kultur. Indem die jungen Franzosen afrikanischer Herkunft revoltieren, werden sie Teil dieser Kultur. Französische Staatsbürger sind sie ja schon. Gewalt wird zu einem Ritual, mit dem sie ihre tatsächliche Aufnahme in die französische Gesellschaft erzwingen. Und mit, wenn auch trügerischem, Erfolg! Nicht nur, dass die finanziellen Mittel wieder fließen, die der aufgeschreckte Staat für die Besänftigung der aufsässigen Jugendlichen zur Verfügung stellt. Die Revolte selbst macht sie zu gefürchteten, also zu beachteten und, aller offiziellen Abwertung zum Trotz, untergründig geachteten Akteuren des politischen Systems.
Tritt ethnische Gewalt oder Gewaltdrohung in Deutschland auf, sei es in der Schule, sei es in Straßengangs, ist sie nicht nur Bewegung gegen und Negation herrschender Kultur, sondern immer |194| auch deren Zwischenergebnis, ein Ausdruck unvollständiger und unbefriedigender, aber doch unablässiger Akkulturation. Aller Ablehnung zum Trotz: Gewalt befördert Akkulturation. Entweder enthält sie ausdrücklich die Forderung nach mehr und besserer Integration der Gewalttäter. Oder sie setzt Ursachenforschung und
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