Weniger sind mehr
Trennung der Lebenssphären nach westlichem Muster steigert nicht nur deren Fähigkeit, Probleme zu lösen. Sie erweitert auch die Freiräume der Menschen und damit die Voraussetzung für die Freiheiten der Liebe.
Vor diesem Hintergrund weltgesellschaftlicher Entwicklung fällt die Interpretation der demografischen Daten weniger dramatisch aus. Es ist richtig, dass der Anteil der Weltbevölkerung, der auf dem Territorium westlicher Kulturen geboren wird, weiterhin rückläufig ist und auf circa 15 Prozent sinken wird. Die nichtwestlichen Bevölkerungen wachsen, trotz sinkender Geburtenraten, weiter. Aber in den kommenden Jahrzehnten werden auch sie den Scheitelpunkt erreichen, dessen Überschreiten den Fall der Geburtenrate und ein Schrumpfen der Bevölkerung zur Folge hat. Aufgrund der längeren individuellen Lebensdauer schreitet die Vergreisung der nichtokzidentalen Gesellschaften ohnehin eher schneller fort als im Westen. Ungefähr ab dem Jahre 2070 ist damit zu rechnen, dass die Gesamtweltbevölkerung schrumpft. 12
Man kann es auch anders ausdrücken: Die westliche Kultur, obwohl ihr Anteil an der Weltbevölkerung rückläufig ist, hat die |199| anderen Kulturen der Welt so weit unterwandert (oder überwölbt), dass alle ihren Reproduktionsmodus von großen und wachsenden auf kleine und sinkende Nachkommenszahlen umstellen.
Trotzdem: Die optimistische Aussicht, dass die Welt sich, von jetzt an gesehen, in knapp 100 Jahren in einer Art demografischem Gleichschritt bewege, muss mit Fragezeichen versehen werden. Denn die Kulturen der Welt haben in ihren religiösen und traditionellen Untergründen Affinitäten, aber auch Differenzen, die wie Mauern zwischen ihnen aufragen. Dabei sind die viel beschworenen Ähnlichkeiten zwischen christlichen und islamischen Kulturen – der Glaube an einen Gott und die Verehrung Jesu, wenn nicht als Gottes Sohn, so doch als Propheten – ein größeres Hindernis für die gegenseitige oder einseitige Beeinflussung der Kulturen als die religiöse Wesensfremdheit zwischen christlichen und fernöstlichen Kulturen. Jedenfalls öffnen Letztere sich in ihrer weltlichen Pflicht- und Arbeitsethik den westlichen Einflüssen viel unbekümmerter und wendiger, als es der Islam tut. Geradezu sensationell rasant passen sie sich nicht nur der technologischökonomischen Dynamik des Westens an, sondern übertreffen ihn auch noch im Fall der Geburtenrate. Kulturkonflikte sind deshalb weniger brisant zwischen dem Westen und dem Fernen Osten als zwischen dem Westen und seinen islamischen Nachbarregionen. Bis es hier zu einer Angleichung der Geburtenraten kommt, wird viel mehr Zeit verstreichen. Vor uns liegt ein Jahrhundert der Wanderungen, die Konflikte sowohl verschärfen wie ausgleichen.
Der ausgleichende und integrative Aspekt von Konflikten gehört nach wie vor zu den am wenigsten erkannten Grundzügen des sozialen Lebens. Konflikt, insbesondere Konflikt der Kulturen, ist für deutsche Gemüter eine Schreckensvorstellung. Als ob Georg Simmel nie gelebt hätte, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts die einigende und zusammenführende Wirkung des Streites in einer wunderbaren Analyse dargestellt hat – einem Herzstück soziologischen Denkens schlechthin. 13
Natürlich wirkt nicht jede Art von Konflikt in jeder Konstellation |200| integrativ. Es gibt zerstörerische Konflikte: Insbesondere wenn die Werte, um die gestritten wird, als unvereinbar gelten, und wenn die Parteien ihren Durchsetzungsanspruch mit gleicher Macht und gleicher Legitimität vertreten. Das ist heutzutage manchmal – nicht immer – der Fall zwischen modernen Eheleuten. Es trifft aber nicht zu für die Akkulturation von Einwanderern. Denn diese sind Minderheiten, die sich in den Bereich einer Macht begeben, die ihnen gegenüber gleich dreifach eine Übermacht darstellt: die Übermacht der Mehrheit, die Übermacht der Präferenz für die eigene, aufnehmende Kultur und die Übermacht der schon Vorhandenen gegenüber den Neuankömmlingen. Diesen drei elementaren Übermächten ist es zu danken, dass Einwanderer zu Trägern der aufnehmenden Kultur werden und nicht umgekehrt die Einheimischen zu Trägern der von den Einwanderern mitgebrachten Kulturen. Dass im Zuge der Akkulturation in der aufnehmenden Kultur nicht alles beim Alten bleiben kann und Zugeständnisse, Abstriche, Umdeutungen gemacht werden, die je nach sozialem Standpunkt als Verluste, aber auch als Bereicherungen interpretiert werden können, versteht sich daraus,
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