Weniger sind mehr
eigenen Sache nützt.
Anti-Kulturation ist nur eine ambivalente Form von Akkulturation. So nutzen junge Muslima das modisch eng geschlungene Kopftuch durchaus, um einen Teil des in der westlichen Gesellschaft so hochgeschätzten knappen Guts der öffentlichen Aufmerksamkeit zu erhaschen. Und sie wissen das Kopftuch als Symbol nicht |190| der Tradition und der Fremdheit, sondern der Religionsfreiheit, der individuellen Selbstentfaltung und der gleichberechtigten Teilnahme der Frau am öffentlichen Leben zu interpretieren. Mit solchen Argumenten täuschen sie Akkulturation nicht vor. Im Gegenteil, sie stellen ein Symbol, das hierzulande in der Regel als antiwestlich gilt, in den Dienst westlicher Religiosität und ihrer Symbole. Dies wird von denjenigen, die ihren islamischen Glauben vertreten, oft als kulturübergreifende Verständigung betrachtet. Das Magazin
Stern
berichtete beispielsweise: »Die aus der Türkei stammende Deutsche Deniz Sengül macht an einer Grund- und Hauptschule im schwäbischen Schwenningen ihr Referendariat in Deutsch, Englisch – und unterrichtet nebenbei Religion. Sie bringt den Kindern auf Deutsch Werte bei, die überall auf der Welt gelten. Doch sie tut es am Beispiel des Propheten. Oft ist sie verblüfft, wie wenig die Menschen über die Parallelen von Koran und Bibel wissen.« 7
Der in Deutschland geborene Türke Murat Kurnaz reiste als 19-Jähriger nach Pakistan, um dort den Wurzeln seines Glaubens näher zu kommen. Er geriet in die Wirren des Afghanistankrieges und wurde bis 2006 von den Amerikanern in Guantanamo gefangen gehalten. Endlich freigelassen präsentiert er sich den deutschen Fernsehzuschauern in gewaltig-befremdlicher Bärtigkeit; mit dieser Haarpracht will er, nach eigenen Worten, dem Propheten nahe sein. Sogleich aber spricht er, in bedächtig-vollendetem Deutsch, von einem normalen Berufs- und Familienleben in Deutschland. Seine Mutter, von einer Deutschen kaum zu unterscheiden, verleiht durch ihr Auf- und Eintreten für den Sohn dieser Erwartung Glaubhaftigkeit und Authentizität. Zu dem Bild passt, dass die Familie selbstverständlich den deutschen Staat als Schutzmacht angerufen hat und nun auch sein – gelinde gesagt – Versagen vor das Tribunal deutscher moralischer Gefühle stellt.
So viel Deutschsein, so viel Akkulturation – und zugleich die Rückwendung zu einer ganz unmodern, undeutsch wirkenden |191| Religiosität: Der Zuschauer sieht und hört es mit zwiespältigen Gefühlen und ist verwirrt. Bis er begreift, dass er Zeuge einer Verwestlichung, einer Akkulturation ist. Was hier zusammengefügt wird, ist zwar als Glaubensinhalt und optischer Habitus nicht westlich, als Religionsfreiheit und als Gesamtlebensentwurf, in dem die Religion neben Beruf, Familie, Politik und öffentlichem Leben nur einen begrenzten Platz einnimmt, durchaus ein Charakteristikum westlicher Kultur und weit entfernt von einem theokratischen Islam.
Die Neigung zu Gewalt in Familien, auf der Straße und im fundamentalistischen Terrorismus scheint einen besonders deutlichen Indikator für das Scheitern von Akkulturation zu bilden. In Wirklichkeit aber ist sie ein Zeichen dafür, dass Akkulturation fortschreitet. Es genügt nicht, darauf hinzuweisen, dass in türkischen Familien körperliche Züchtigung häufiger zum Einsatz kommt als in deutschen. Es muss dazu gesagt werden, dass Gewalt, empirischen Erhebungen zufolge, auch in türkischen Familien rückläufig ist. 8 Und es ist hinzuzufügen, dass der Konflikt zwischen den Kulturen längst zu einem Konflikt innerhalb türkischer (und anderer islamischer) Familien geworden ist. Diese Auseinandersetzung tragen die Familienmitglieder in der Regel unter sich aus; sie wird nicht öffentlich. Sie ist in den türkischen Familien (in Deutschland) stärker als in den deutschen oder italienischen Familien. Das lässt sich daran erkennen, dass mehr türkische Jugendliche, besonders Mädchen, in der Erziehung vieles anders machen würden als ihre Eltern. 9 Es sind besonders die Töchter, die mit Vätern, Brüdern und Onkeln über die Rolle der Frau streiten und damit den Kulturkonflikt in der Familie tragen und erleiden. Findet dieser Konflikt dramatisch-gewaltsamen Ausdruck, in den sogenannten Ehrenmorden, dann nicht dort, wo wir es vermuten: in einer intakten Familienkultur des Orients, die die junge Frau bestraft, die an den Westen verloren zu gehen droht. Vielmehr sind die Familien, die zu diesem äußersten Mittel selbstverstümmelnder
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