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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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motivierter Terrorakte geraten die im Westen lebenden Muslime unter Druck, sich zu ihrer neuen Heimat zu bekennen und sich auch sichtbar zum Träger ihrer Lebensformen zu machen oder ihr den Rücken zu kehren. Diese Alternative auszusprechen, entspricht nicht den Höflichkeitsregeln. Sie braucht auch nicht ausgesprochen werden. Denn sie gehört zu dem Wissen, das sich ohne ausdrückliche Artikulation in den Tiefenbewegungen der kollektiven Gefühle bildet. Die Minderheiten der Zuwanderer wissen es genauso wie die Mehrheit der aufnehmenden Kultur: Wenn – sei es durch Menge, sei es durch fortdauernde Fremdartigkeit der Einwanderer, sei es durch hintergründig-globale Verschärfung des Kampfs der Kulturen – die aufnehmende Kultur ihre akkulturierende Kraft zu verlieren droht, dann mobilisiert sie die Mechanismen des Selbsterhalts, die in jeder Kultur eingebettet sind: die Präferenz fürs Eigene, den Konformitätsdruck der Mehrheit, den Vorrang des bereits Vorhandenen. Dass sie über diese »archaischen« Mechanismen verfügt und sie auch zum Einsatz bringt, brauchte sich die »höhere« Kultur des Okzidents bisher nicht bewusst zu machen. Sie konnte sich schlicht auf ihre Attraktivität verlassen. Überfordert aber die Attraktivität und Offenheit des Westens seine Fähigkeit zur Akkulturation, ruft sie gar antiwestliche Gegenbewegungen hervor, greift auch die westliche Kultur auf die gröberen Mittel des Selbsterhalts zurück, die sie mit allen Kulturen teilt, für sich selbst aber eher überwunden |197| glaubte: auf die politische Steuerung der Einwanderung, Druck zur Anpassung und Sanktionen bis hin zur Ausweisung.
    Diese politischen und gewaltsamen Mechanismen sind aber nicht die eigentlichen Werkzeuge im Kampf der Kulturen. Die Waffen der Kulturen sind Werte, Anziehung und Abstoßung. Die westliche Kultur setzt ihre Anziehungskraft ein. Sie zieht den Nachwuchs aus anderen Kulturen an und füllt so die Lücke, die aufgrund des Geburtenrückgangs im Westen selbst entsteht. Nun beginnt ein Wettlauf auf eigenem Boden. Die Einwanderer bringen unweigerlich ein Stück fremde Kultur mit, was sie eigentlich gar nicht sollten. Kann letztere sich, aufgrund der höheren Geburtenrate und wachsenden Zahl ihrer Träger, der Akkulturation widersetzen?
    Die westliche Kultur bestreitet den Wettkampf nicht mit gleichen Waffen, also nicht mit Geburtenzahlen. Sie setzt stärker auf die Ausbreitung und Anziehungskraft ihrer Werte. Denn diese – moderne Medizin und Technologien, Gleichberechtigung der Frauen, Freizügigkeit und Autonomie der religiösen, politischen, ökonomischen, familialen, sportlichen und anderer Lebenssphären – sind es, die die Geburtenziffern absenken – bei den Einwanderern ebenso wie bei den Einheimischen. Der Wettlauf ist also der zwischen zwei Ausbreitungsgeschwindigkeiten. Wer breitet sich schneller aus? Die nichtwestliche Kultur mit ihren hohen Geburtenziffern oder die westliche Kultur, deren überlegene Problemlösungen und Werte die Träger anderer Kulturen anziehen und so anverwandeln, dass ihre Geburtenrate ebenfalls fällt, zum Teil sogar unter das westliche Niveau?
    Dieser Kulturkampf ist entbrannt, und zwar überall in der Welt. In den noch wenig industrialisierten Gesellschaften mit den höchsten Geburtenraten sind diese gleichwohl in freiem Fall begriffen; der UN-Weltbevölkerungsfonds sagt für Entwicklungsländer voraus, dass die Geburtenraten zwischen 1969 und 2050 von ca. 6 auf 2,2 Kinder pro Frau fallen werden. 11 In schnell sich industrialisierenden Gesellschaften wie Japan und Korea |198| liegen die Fertilitätsraten bereits unter dem westlichen Niveau. Im Westen selbst passen sich die Familien, die als kinderreiche einwandern, der aufnehmenden Kultur innerhalb von zwei bis vier Generationen so weit an, dass die Fertilitätsraten kaum noch zu unterscheiden sind. Und immer und überall setzt sich das westliche Kulturmuster der Familie mit wenigen, aber hochgradig wertgeschätzten Kindern durch. Nirgends verläuft die Entwicklung andersherum.
    Von Norden und Westen aus verbreiten sich die Ideale der Liebesehe und des Wunschkindes über die Welt. Manchen geht es nicht schnell genug; sie wundern und empören sich darüber, dass selbst in den modernen Teilen Japans, Indiens und Chinas die arrangierte Ehe und der Wunsch nach zahlreichen männlichen Nachkommen noch nicht ausgestorben sind. Auf lange Sicht ist aber auch hier die Richtung der Entwicklung unzweideutig. Die fortschreitende

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