Wenn alle Schranken fallen
lange bleiben.”
“Du weißt nicht, wie viel mir deine Besuche bedeutet haben.” Lydia wollte das nicht tun, aber sie hatte keine andere Wahl. Es war besser so, für sie beide. “Niemand sonst konnte verstehen, was ich durchgemacht habe.”
Gordon sprang auf, schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und wandte ihr den Rücken zu. “Sieh mal, falls du versuchst, mir auf deine typisch damenhafte Art schonend beizubringen, dass ich nicht mehr herkommen soll, dann verstehe ich das. Mach dir keine Mühe, es auszuschmücken, okay?”
Mit schwachen Knien erhob sich Lydia. Ihre Hände zitterten. Es zerriss ihr das Herz, den Schmerz und Zorn in seiner Stimme zu hören. Wusste er nicht, wie schwer es für sie war? Auf irgendeine sonderbare Art brauchte sie ihn. Er war der einzige Lichtblick in ihrem einsamen Leben. “Gordon, bitte … lass mich doch erklären …”
“Was gibt es da noch zu erklären?” Aufgebracht zog er seine Jacke an und ging zur Tür. “Die Leute reden über uns, stellen die wildesten Vermutungen an.”
“Ich habe Angst, dass nach Tyler und Macie nun wir beide zum Gegenstand des Klatsches werden.” Lydia wollte die Hand ausstrecken, seinen harten Rücken berühren, mit der Hand beschwichtigend über die verspannten Schultern streichen. Aber sie wusste, sie durfte ihn nicht anfassen, sonst wäre es um sie geschehen.
“Ja, und einer Lady wie dir gefällt es nicht, wenn die Leute glauben, du würdest dich mit irgendeinem Farmer einlassen, der Rinder und Hühner hält. Einem Kerl mit Schwielen an den Händen und Dreck unter den Fingernägeln.” Gordon schob die Tür auf.
“Wir müssen beide an unseren Ruf denken, und ich bin sicher, dass du schon aus Rücksicht auf Molly Anstand bewahren willst.” Lydia folgte ihm zur Tür und wünschte, er würde verstehen, dass sie ihn nicht verlieren wollte.
Als Gordon sich umdrehte, erschrak sie. Seine Augen sprühten Funken, die Lippen waren zu einer dünnen Linie verzogen. “Lady, der einzige Ruf, den ich je gehabt habe, war ein schlechter. In meiner Jugend war ich der wilde Cameron-Junge. Du weißt schon, ein Typ, der zu viel trank, zu schnell fuhr und sich an jedes weibliche Wesen heranmachte. Dann hat mich eine dieser Frauen eingefangen. Damals dachte ich tatsächlich, ich täte das einzig Ehrenhafte.”
Lydia streckte die Hand aus. Nur Zentimeter war sie von seinem Gesicht entfernt. Sie wollte ihn berühren, seinen Schmerz lindern, aber sie wagte es nicht. “Du brauchst nicht …”
“Du glaubst, es war hart, herauszufinden, dass dein Mann dir in den letzten Jahren untreu gewesen ist? Nun, du hast nicht den blassesten Schimmer, wie es ist, dem Mitleid der Menschen und dem Gespött der anderen Männer ausgesetzt zu sein.”
“O Gordon.” Sie ließ ihre Hand sinken. Verwirrt bemerkte Lydia, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. In den sechs Monaten seit Tylers Tod hatte sie kein einziges Mal geweint.
“Falls du mit deinem Mann geschlafen hast, nachdem er mit Macie zusammen war, solltest du dich vielleicht mal gründlich untersuchen lassen. Nur für den Fall. Meine Frau hat sich nämlich mit jedem Kerl eingelassen, der sie haben wollte.”
Das ganze Ausmaß von Gordons Seelenqual berührte Lydia, und ihr eigener Kummer schwand. Sie wollte ihn in den Arm nehmen und ihn trösten und ihm sagen, wie viel er ihr bedeutete. “Bitte geh nicht.”
“Es hat doch keinen Sinn, wenn ich bleibe, oder?” Er trat auf die Terrasse hinaus. Der kühle Abendwind zerzauste sein Haar. Ungeduldig fuhr er mit den Fingern durch die Locken.
So wollte Lydia die Beziehung nicht beenden. Warum konnte er nicht einfach die Tatsache akzeptieren, dass es keine Zukunft für sie gab? Ihr Zusammensein würde ihnen beiden nur noch mehr Kummer bringen.
Gordon wirkte so einsam, wie er dort stand, eine vom blassen Licht des Mondes umgebene Gestalt vor dem schwarzblauen Himmel. “Kurz vor unserem Telefonat erhielt ich einen anonymen Anruf.” Auf seinen ungläubigen Blick hin erklärte sie: “Irgendjemand hat mir befohlen, mich von dir fernzuhalten.”
Ein Muskel zuckte in Gordons Wange. “Ein Drohanruf?”
“Es war nicht der einzige.”
Was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Wollte Lydia ihre Freundschaft beenden, nur weil sie von irgendeinem mysteriösen Anrufer bedroht worden war? “Wie oft hat diese Person angerufen?”
“Viermal. Nur dachte ich bisher, es wäre wieder jemand, der aus reiner Besorgnis anrief, so wie die anderen Leute. Aber jetzt bin
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