Wenn das der Führer wüßte
überschwemmt ist, wie ich höre. Ich bin sicher, das ganze Gebiet bis weit hinauf zum Eismeer wird in Kürze geräumt, und zwar kampflos. Auch für das Sammellager, zu dem wir wollen, gebe ich keinen Pfennig. Wir müssen uns schnell von hier absetzen, sonst versäumen wir die Überfuhr. Die Jahreszeit und der Nebel sind günstig. Alle Spuren verwischen, nichts zurücklassen. Schon morgen sollten wir uns auf die Socken machen!“
So stand es also. Jugurtha fiel auf, daß der alte Herr das Parteiehrenzeichen umflort trug. Auf seinen fragenden Blick sagte der Direktor ruhig: „Für unseren Führer.“ Es war offenkundig: der Mann mußte zwar als Flüchtling mit den Werwölfen heulen, hatte aber das Rückgrat, offen für Adolf Hitler Trauer zu tragen. Die Staatstrauer war, offiziell jedenfalls, nie aufgehoben worden, in der Praxis sah es jedoch so aus, daß der „Führerflor“ als Bekenntnis zur Vergangenheit, wenn nicht gar als politische Herausforderung gewertet wurde. Oder schon nicht mehr? Jugurtha hatte die herabsetzenden Worte im Ohr, mit denen der Oberbaurat die angebliche Flucht Köpflers quittierte. Und auch im Funkraum der Geologenstation hing noch immer – oder schon wieder – ein Führerbild an der Wand.
War das Reich wirklich führerlos? Diese Frage ergab sich aus alldem von selbst. Jugurtha wanderte wieder einmal um die kleine Station in der unendlichen Weite der Schneelandschaft. Er mußte sich ständig Bewegung verschaffen, er war unruhig, auch in den hellen, nervös machenden Nächten stapfte er manchmal draußen herum, von Hunden beknurrt und von den Wachen angerufen – er hielt das Geschnarche der Wirtschaftsbonzen einfach nicht aus. (Jede Wirtschaftsgruppe hatte ihre eigene Tonstärke und Tonlage.) Die Eskimos schienen rührige Leute zu sein, der Platz rund um die Hütten war sauber ausgeschaufelt, auch die blitzblanke Landepiste zeugte von ihrem Fleiß. Jugurtha sah sie gern, und wo immer ihre fellumhüllten, flachen, dunkelhäutigen Gesichter auftauchten, die wie feuchtes Kupfer glänzten, grüßte er sie verstohlen mit den Augen. Und die schwarzen Schlitzaugen glitzerten freundlich zurück. Nur der Trangeruch war ein Brechmittel, seine Magennerven revoltierten seit neuestem „wegen jedem Schmarrn“.
War das Reich ohne Führer? Der Schöpfer des Weltreichs war tot, sein Mörder und Nachfolger unauffindbar. Wer befahl? Befehlen mußte einer, und wäre es ein Mörder. Nichts gab es ohne Befehl. In Deutschland hatten sich trotz aller Wirrsal klare Fronten gebildet. Die Zukunft war gegen die Vergangenheit aufgestanden, eine Zukunft, wie sie sich nach des Führers Tod allerorts abzuzeichnen wagte. Die Vergangenheit hatte ausgespielt – für immer. Das Schicksal des Reiches lag einzig bei Mächten, die – so oder so – seine Zukunft bestimmen würden. Diese Zukunft hieß nicht mehr NSDAP, SA und SS . Sie hieß entweder Werwolf oder Armer Konrad.
Falls es inmitten des großen Asiatensturms überhaupt noch so etwas wie eine germanische Zukunft gab! Die Weltesche erzitterte bis ins Mark unter den Stößen dieses Sturms, das Laub stob von den morschen Ästen. An jenem dunklen Herbsttag, an dem Adolf Hitlers Tod verlautbart worden war, hatte der Wind die letzten Blätter von den Bäumen gefegt, Jugurtha wußte es noch genau.
Er versuchte, mit Sigga darüber zu sprechen, die, wenn sie nicht im Bett lag und schlief, in Decken gehüllt beim Fenster saß und in die Ferne starrte. Umsonst. Sigga verhielt sich apathisch, trotz den stärkenden und aufpulvernden Injektionen, die ihr die Geologenfrau, eine ehemalige, nicht fertig studierte Medizinerin, verabreichte. Auch fing Sigga wieder an, wirre Reden zu führen, es war oft so, als spräche sie aus dem Schlaf. In ihren Phantasien tauchten manchmal die Römer auf und der „schwarze Jugurtha“ und der Krieg – und der, mit dem sie sprach, war immer „mein lieber Junge“; so sagte Doris. Nur wenn der Oberbaurat ins Zimmer kam (er kam häufig ins Zimmer) und sie in seiner knappen, bestimmten, halb burschikosen, halb ironischen Art anredete, wachte sie aus dem Dahindämmern auf, wurde lebhaft, ja kokett. Quälend, so was ansehen zu müssen. Eifersucht und Enttäuschung. Zuerst Knud, jetzt der da. Wieder entglitt sie ihm.
Der Oberbaurat hatte auf jeder Ebene die Führung an sich gerissen, niemand widersprach dem. Überall war er der Mittelpunkt, ordnete an. Seine Befehle, das mußte ihm der Neid lassen, waren glänzend durchdacht und vorausschauend.
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