Wenn das der Führer wüßte
den übrigen Sachen. Dann nahm er im Schaukelsitz Platz und schnallte sich an. Sigga lag zu seinen Füßen, hatte die Augen geschlossen, atmete aber regelmäßig, auch die Gesichtsfarbe war besser.
Durchs Bullauge konnte er einen hellen Fleck ganz unten am Horizont gewahren – die Sonne. Der Nebel wurde dünner, zerstreute sich allmählich zu fetzenhaften Gebilden. Die Maschine beschrieb große Kurven und gewann dabei an Höhe, der Sonnenstand änderte sich dauernd, die Tragflächen hoben und senkten sich. Jetzt lag das Nebelmeer tief unter ihnen, es hatte die trügerische Dichte einer welligen weißen Ebene, über die der Schatten des Riesenvogels dahineilte. Die schrägen Strahlen der Sonne fielen aus einem schwärzlichen Himmel.
Nun veränderte der Düsenlärm seine Klangfarbe. Sie gingen rasch hinunter, das Nebelmeer stürzte ihnen förmlich entgegen. Wieder zog graue Düsternis in die Kabine ein, die Maschine flog flattrig und rumpelnd, so als hüpfe sie über eine Straße mit Frostaufbrüchen. Nein, sie schwebten noch hoch in der Luft, hatten die Wolkendecke durchstoßen und rasten auf einen Punkt zu, einen fernen schwarzen Stecknadelkopf inmitten eines sonnenlosen Schnee- und Eiskontinents, der sich eintönig und unermeßlich nach allen Seiten hin ausdehnte. Die einzige Farbe, ein kleiner Freudenschrei in der weißen Wüste, war das rote Kreuz auf einem Fahnenmast, um den herum sich ein paar Schuppen verloren hatten. Die Landebahn war nicht auszumachen (gab es überhaupt eine?), trotzdem setzte die Maschine leicht und sanft und sicher auf. Als sie ausgerollt war, rief jemand: „Heil unsrer Mannschaft!“
Alles jauchzte auf. Man machte sich los, schüttelte viele Hände, die Piloten wurden umarmt und zum Abküssen herumgereicht. In dem Wirrwarr versuchte ein Bierbaß das Horst-Wessel-Lied anzustimmen, aber keiner fiel ein. Sigga lag da und bewegte lautlos die Lippen.
Auf den Asphodeloswiesen
nû sehet, wie unser lachen
mit weinen erlischet.
Hartmann von Aue
Das Ganze war eine ausgewachsene Katastrophe. Sie befanden sich etwa vierzig Deutsche Meilen (300 Kilometer) südöstlich des Ortes, wo sie hätten landen sollen. Und auch jener Ort wäre nicht das endgültige Reiseziel gewesen, sondern nur ein weiteres Sammellager – gewissermaßen das diesseitige Spiegelbild von Ju 33. (Die Luftbrücke Bifröst ruhte auf mehreren solchen Pfeilern.) Von jenem Auffanglager bis zu den unterirdischen Unterkünften und Stützpunkten nördlich des Polarkreises, irgendwo im Gebirge an der Grenze von Alaska, war es eine weitere große Flugstrecke. Aber jedes reguläre Lager besaß eben gute Unterkünfte, Ärzte und Sanität, Motorschlitten, Hubschrauber, vor allem eine schlagkräftige Abwehr; der weite Kranz befestigter Sammellager bildete das Vorfeld der eigentlichen Arktisfestung. Hier jedoch, auf einem vorgeschobenen Posten im Ödland, gab es nichts.
Jede Geheimnistuerei wurde fallengelassen, auch andere Masken fielen. Das Treibstofflager mit dem Sendezeichen Y 771 lag in einem wasserreichen Tundrengebiet der nordwestkanadischen Barren Lands, unter 64 Grad 23 Minuten nördlicher Breite und 96 Grad 25 Minuten westlicher Länge. Um das hölzerne Stationshaus, das auch die Funkanlage beherbergte, und ein längst aufgelassenes Bethaus der Society of Friends standen ein paar Wellblechschuppen und Schneehütten. Hinter dem Lager erstreckte sich die Startbahn ins Land hinein.
Die Tarnfahne, das Rote Kreuz, wehte vom Funkmast. Gefunkt wurde seit Tagen nicht mehr, man hätte nur feindliche Spähtrupps angelockt. Ein deutsches Ehepaar und ein Däne wohnten hier, die Männer waren Geologen, der Deutsche, der während des Krieges in einer Nachrichtenkompanie gedient hatte und ausgebildeter Funker war, besorgte auch den Wetterdienst. In den Iglus hausten Eskimos.
Die Piloten warteten und warteten darauf, daß die dichte Nebeldecke sich heben werde. Im Gegenteil, es begann zu schneien, und die Geologen sagten, es könne Wochen dauern, bis die ersten Winterstürme das Wetter ändern würden. Da saßen sie nun in der Patsche. Die Besatzung hatte strengsten Befehl, die Maschine ungesäumt zurückzufliegen, die Frist war schon um einen Tag überzogen. An den Weiterflug war nicht zu denken, der Nebel bedeckte das ganze Land, also entschloß man sich, am dritten Morgen zu starten und von irgendwo Hilfe herbeizuholen. Obwohl infolge des schützenden Nebels die Temperaturen nicht extrem waren, zweigten die
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