Wenn das Schlachten vorbei ist
den Kopf. Sie lächelte jetzt ebenfalls, die Last war von ihr genommen oder wenigstens leichter geworden, wenigstens für den Augenblick. »Ich hatte keine Ahnung.«
Jetzt, im Badezimmer, wischt sie den beschlagenen Spiegel ab, um ihr Make-up aufzulegen, und die Stimme ihrer Mutter – eine angenehme, bebende Altstimme, trainiert in all den Jahren, in denen sie mit ihren Drittklässlern »Lean On Me«, »The Man in the Mirror« und »The Lion Sleeps Tonight« gesungen hat – ist eigenartig beruhigend. Sie ertappt sich dabei, dass sie beim Anziehen mitsummt. Wie alle Meetings, die sie arrangiert, ist auch dieses informell, und so zieht sie nichts anderes an als sonst: eine lohfarbene Vliesweste von Patagonia über einem Micah-Stroud-T-Shirt, rehbraune Kordshorts und Wanderstiefel aus Veloursleder. Es ist Ende Oktober, die Sonne ist aufgegangen, es gibt keinen Nebel, aber am Meer ist es immer kühl, und darum trägt sie die Weste (oder vielmehr die Westen, denn sie hat drei davon, in Braun, Dunkelrot und Rostrot) jahrein, jahraus – mit einem T-Shirt im Sommer und einem langärmligen Hemd oder Pullover im Winter. Diese Westen sind äußerst praktisch. Obwohl sie weder heute noch an irgendeinem anderen Tag der Woche zur Insel hinausfahren wird, könnte sie jederzeit aufbrechen, denn die diversen Taschen sind ideal für Sunblocker, Lippenbalsam, Leatherman, Kompass, Landkarten, Wasserflasche und dergleichen. Schließlich wickelt sie das Handtuch vom Kopf, kämmt das Haar und geht hinunter, wo es nach Speck riecht, wo Ed und ihre Mutter sind und die Küche ein einziges Durcheinander ist.
Ihre Mutter, erstaunlich munter angesichts der Wodkamengen, die sie gestern abend in sich hineingeschüttet hat, trällert ein fröhliches: »Guten Morgen, Schatz! Kaffee?« Sie schwenkt einladend die Glaskanne.
»Ja, okay«, hört Alma sich sagen. »Aber ich muss ihn mitnehmen, bin sowieso schon spät dran, also tu ihn … « Sie greift nach ihrem Becher, dem mit dem zähnefletschenden Wildschwein, den Freeman ihr im Scherz geschenkt hat, aber er ist nicht da. Ihre Mutter hat aus unerfindlichen Gründen alles umgeräumt, nicht nur die Becher, sondern auch den Toaster, die Kaffeemaschine, die Mikrowelle und das Radio. Der Abfalleimer ist verschwunden. Die Fotos auf dem Kühlschrank sind willkürlich umarrangiert. Und wo ist der Kalender?
Aber da ist der Kaffee, ihre Mutter schenkt ihn ein und fragt sie, ob sie nicht Zeit hat, wenigstens einen Happen zu essen, und sie sagt: »Nein, Mom, ich muss los«, gerade als Ed – auch er munter und noch immer athletisch gebaut, trotz der Hüfte – mit seiner morgendlichen Bloody Mary hereinkommt und sich an den Tisch setzt, wo ihn ein Teller mit gebratenem Speck und Rührei à la mexicaine erwartet. »Morgen«, sagt er.
»Morgen, Ed.« Sie versucht ein Lächeln, er ebenfalls.
Hat sie alles? Sie stellt den Becher hin, klopft ihre Taschen ab, geht ins Wohnzimmer, um Laptop, Sonnenbrille und Ringbuch zu holen, und ergreift dann unter einem Schwall von Entschuldigungen die Flucht. »Ich wollte, ich könnte bleiben und den Vormittag mit euch verbringen«, sagt sie, als sie durch die Tür geht, »aber wir sehen uns ja heute abend. Und denk dran, Mom: Du brauchst nicht zu kochen – ich will euch doch in dieses Fischrestaurant einladen, okay?«
Sie ist angeschnallt, Laptop und Ringbuch liegen auf dem Beifahrersitz, der Becher steht im Halter, der Wagen summt leise. Dann verlässt sie die Einfahrt, um sich in den Verkehr einzufädeln, der sich von der Schnellstraße herabwindet und sich bereits am Stoppschild am Ende des Blocks staut. Um nach Süden zu kommen, muss sie an der Kreuzung links abbiegen, zwischen einem Einerlei aus Wohnblocks hindurch zwei Blocks nach Norden, dann abermals nach links über die Brücke und schließlich nach rechts im großen Bogen auf die Schnellstraße in Richtung Süden fahren. Als sie vor einem gelben, zu schnellen Cabrio aus der Einfahrt auf die Straße einbiegt, jagt etwas vor ihr über die Fahrbahn, ein verschwommener Schatten, und sie tritt auf die Bremse – ein wütendes Hupen des Cabriofahrers – und spürt den dumpfen Schlag von etwas Sterblichem unter dem linken Hinterrad. Im nächsten Augenblick hält sie mit klopfendem Herzen am rechten Fahrbahnrand, das Cabrio saust vorbei, und sie späht ängstlich in den Rückspiegel, um zu sehen, was sie da überfahren hat, das Tier, das Lebewesen – ein Eichhörnchen, ist es ein Eichhörnchen? –, das sich am
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