Wenn das Schlachten vorbei ist
ausgewischt, sie an der Nase herumgeführt zu haben. Gut, nicht? Er sieht nicht zurück, aber er kann sich die beiden Gestalten vorstellen, die am Strand zurückbleiben und vielleicht die Hände ringen und einander vorjammern, wie ungerecht die Welt ist. Was machen sie jetzt mit ihrem kleinen Buch und den nagelneuen, blitzenden, vom Steuerzahler bezahlten Handschellen? Er hat Mitleid mit ihnen, wirklich. Aber er beobachtet auch den Horizont und hält Ausschau nach anderen Booten – insbesondere nach dem Kutter der Küstenwache –, denn diese Leute haben immerhin Funkgeräte. Der Motor summt. Das Wetter bleibt schön. Es ist halb zwölf, und alles ist gut, die Klippen schirmen ihn nach rechts ab, und vor ihnen liegt der Ozean in seiner knallblauen leeren wogenden Weite. »Wir versuchen’s in Smugglers’«, sagt er, und Anise sieht ihn an.
Sie packt gerade ein Sandwich aus, das sie ihrer Mutter reicht – geröstete Paprikaschoten mit Hummus auf Hafer-Haselnuss-Brot, kein Fleisch, obwohl Rita eine unverbesserliche Fleischfresserin ist –, und fragt sich laut, ob das eine gute Idee ist. »Sollten wir die Sache nicht lieber abbrechen, solange wir einen Vorsprung haben?«
»Scheiße, nein.« Er ist nicht wütend oder enttäuscht, er versucht nicht, sich zu rechtfertigen. Er wird tun, was er tun muss, und niemand wird ihn davon abhalten. »Willst du nicht wenigstens sehen, was die vorhaben? Ich meine, die Situation erfassen ? Wenn wir schlau gewesen wären, hätten wir Toni Walsh mitgenommen.« Er hört das beruhigende Summen des Motors, das Rauschen des Wassers, das der Rumpf teilt. »Was meinst du, Rita?«
»Ich?« Sie sieht zu ihm auf, in ihren Augen funkelt noch immer Amüsement. »Ich bin dabei, denn das hier ist einfach … ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll … erstaunlich. Wirklich erstaunlich.« Sie wendet den Blick ab, beugt sich vor und holt eine Dose Bier aus der Kühltasche unter der Bank. Dann setzt sie sich auf, streckt den Rücken, als wollte sie sich von der Anspannung der Verfolgungsjagd erholen, und öffnet die Dose mit einem triumphalen Knacken. »Ich würde zu gern das Haus sehen«, sagt sie, und ein verführerischer Unterton schleicht sich in ihre Stimme. »Ihr wisst ja, zu unserer Zeit stand es leer – jedenfalls bis diese Jäger sich dort breitgemacht haben. Hat Anise dir je davon erzählt?«
Hat sie, ja. Sie hat ihm von dem Trauma erzählt, das diese Ereignisse hinterlassen haben. Ritas Freund war zu jener Zeit ein halber Krüppel und konnte nichts tun, und die Besitzer übten Druck auf die Kapitäne der Frachtschiffe aus, damit sie Ritas Auftrag, die Schafe aufs Festland zu bringen, ablehnten, denn sie wollten, dass die Schafe auf der Insel blieben, wo Sportsmänner sehr teure Löcher in sie schießen konnten. Das Schlachten war bereits im Gange, wenn auch unter einer anderen Bezeichnung. Und dann fanden die drei sich auf einmal in einer winzigen Wohnung in Oxnard wieder, genau da, wo sie begonnen hatten, und anstatt sechstausend Morgen Land hatten sie einen Garten, so groß wie ein Schweinekoben, und anstatt keine Altersgenossen und keine Ahnung von Style oder Top-Forty-Music oder von Anspielungen auf Fernsehserien zu haben, die zu kapieren sie ein Jahr brauchte, war Anise plötzlich in einem Klassenzimmer. In verschiedenen Klassenzimmern. Mit verschiedenen Lehrern und umgeben von den unzähligen spöttisch grinsenden Gesichtern ihrer Altersgenossen, und wenn sie keine echte Schönheit gewesen wäre, die Verkörperung der feuchten Träume eines jeden halbwüchsigen Jungen (hier extrapoliert er ein wenig), hätte sie das nicht überlebt. Rita arbeitete als Kellnerin. Ihr Freund – er war inzwischen ein alter Mann – wurde wieder gesund. Beinahe jedenfalls. Aber er fand keine Arbeit, denn in Oxnard gab es keine Schaffarmen, und sein Bein machte ihm noch immer zu schaffen und tat höllisch weh, wenn er länger als zehn Minuten stehen musste, und in seinem Alter wollte er natürlich nicht irgendeinen Mindestlohnjob in einem Haushaltswarengeschäft oder so annehmen, und so fing er wieder an zu trinken. Und Rita ebenfalls. Die beiden hielten es ein halbes Jahr lang aus, und dann war er eines Tages verschwunden, und Anise wurde – ganz langsam und vorsichtig, durch Nachahmung und indem sie ihre angeborene Intelligenz, die Narben der Isolation, ihre Stimme und ihre Gitarre für sich nutzte – zu Anise.
»Nein«, sagt er. »Nein, das hat sie mir nicht erzählt.«
Anise streckt
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