Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
spielerisch die Hand aus und drückt seine Wade. »Du weißt, dass ich es dir erzählt habe«, sagt sie. »Ungefähr sechstausendmal.«
    »Ja«, sagt er, »okay. Aber ich will es aus erster Hand wissen.«
    Er hat ein Sandwich in der Hand und – ein Blick auf die Uhr, um sich zu überzeugen, dass es nach zwölf ist – auch ein Bier. Warum nicht? Warum sich nicht amüsieren, eine Party feiern, wenn ihm danach ist? Auf dem Meer herrscht noch Freiheit, auch wenn die Insel abgesperrt ist wie eine Gefängniszelle, nur dass die Gefangenen draußen sind.
    Ritas Stimme klingt heiser und abgenutzt, doch sie erzählt die Geschichte mit einer gezwungenen Heiterkeit, als spielte nichts davon mehr eine Rolle, als wäre sie über den Schmerz der Zwangsräumung und der Trennung von ihrem Freund und schließlich auch von ihrer Tochter längst hinweg, als wäre ihr Leben voller Untätigkeit und Kneipengespräche in einem Nest wie Port Townsend genau das, was sie sich immer erhofft hat. Er hört zu wie ein Historiker, die eine Hand hält das Steuer, die andere hebt abwechselnd Sandwich und Bierdose an den Mund, und dann liegt Smugglers’ Cove vor ihnen, und in demselben Augenblick biegt der Kutter der Küstenwache mit blinkenden Lichtern und irgendeinem Idioten an Deck um die gegenüberliegende Landzunge und fährt in die Bucht ein. Er kann es nicht fassen. Aber er schiebt Sandwich und Bierdose beiseite und steuert hart backbord, als wäre das in seinen Genen verankert, und schon fahren sie wieder in die Richtung, aus der sie gekommen sind, harmlose Ausflügler, die um die Insel herumschippern, Bootsbegeisterte, die einen der letzten herrlichen Herbsttage nutzen.
    Klopft sein Herz? Allerdings. »Haben wir nicht vorhin erst von hohem Blutdruck gesprochen?« sagt er und versucht ein Lachen. Die Frauen sehen über die Schultern zurück, ihre Begeisterung ist wie weggeblasen. »Folgen sie uns?« fragt er mit unbewegter Stimme.
    Er wird sich nicht umdrehen, so wie er auch nicht in den Rückspiegel sieht, wenn ihm auf der Schnellstraße ein Polizeiwagen folgt, denn seine Theorie besagt: Wenn du zu aufgeregt bist, nageln sie dich. Sei respektvoll, lass sie merken, dass du sie bemerkt hast, und fahr immer schön hundert, ohne Eile, ohne Angst.
    »Nein«, sagt Anise, »nein, ich glaube nicht.«
    Raus aufs Meer, mit halber Kraft, der schrundige, abfallende Rücken von San Pedro Point liegt scharf umrissen vor ihnen. Er sagt nichts mehr. Sieht nur, wie das Kap näher kommt, und ändert den Kurs ein wenig nach Nordosten, als wollten sie zum Festland zurückkehren, und das ist es, was auch Anise und ihre Mutter denken: dass der Tag gelaufen ist, dass sie unterlegen sind, dass sie besiegt nach Hause fahren. Und dann verschwindet die Bucht und mit ihr die Küstenwache – die Spitzel in Scorpion Bay haben sie wohl doch nicht per Funk verständigt –, und als das Kap hinter ihnen zurückbleibt, ändert er wieder den Kurs und fährt nach Westen, praktisch denselben Weg, der sie von Scorpion hierhergebracht hat.
    Anise und ihre Mutter sind in ein Gespräch vertieft. Jeder Hügel, jeder Felsen, jede guanobespritzte Steilwand bringt eine Flut von Erinnerungen, und so haben sie den Kurswechsel nicht bemerkt oder jedenfalls nicht kommentiert. Doch jetzt, da seine Absicht unverkennbar ist, hebt Rita den Kopf und sagt: »Wo fährst du hin? Zur anderen Seite?«
    Er nickt und ist sich bewusst, dass Anise ihn ansieht. »Ich dachte, wir fahren mal rüber und sehen uns Prisoners’ an. Das gehört TNC. Die können ja nicht überall sein, oder?«
    Prisoners’ Harbor, der Haupthafen von Santa Cruz, liegt an der Nordküste, jenseits der schmalen Landzunge im Osten, die der Insel aus der Luft ein so apartes Aussehen verleiht: als wäre sie ein großer brauner Plesiosaurier, der den kantigen Kopf reckt und ein flinkflossiges Wesen aus den Tiefen des Meeres verfolgt. Zu Füßen eines Gewirrs von Hügeln liegt ein langer Strand, der Endpunkt des Tals, das sich fünf Kilometer weit bis zur Hauptranch erstreckt, wo die ehemalige Weinkellerei noch immer steht und wo das alte Ranchhaus mit seinem Pool, den Gärten und Nebengebäuden den Conservancy-Leuten als paradiesische Operationsbasis dient. Zweimal ist er dort gewesen, in glücklicheren Tagen, bevor das große Schlachten begann, und die Lage des Ranchhauses, die so gewählt ist, dass sie alle möglichen Ausblicke über dieses eigene schöne Tal erlaubt – einen Ort, an dem das Treiben der Welt vorübergegangen ist

Weitere Kostenlose Bücher