Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
liegt wie eine Opfergabe die Zeitung. »Hast du schlecht geschlafen? Also ich jedenfalls fühle mich, als hätte ich nicht länger als fünf Minuten geschlafen – diese Schnellstraße ist so laut. Ich weiß nicht, wie du das aushältst.«
    Alma steht vor dem Kühlschrank, starrt desinteressiert auf die Milch und die Säfte in den bunten Kartons, auf das Stück Käse unter faltiger Folie und den Teller mit irgendwelchem Zeug, das sich an den Rändern braun verfärbt, und fühlt sich mit einemmal zu erschöpft, um zu antworten.
    »Wenn du es genau wissen willst: Du siehst aus, als hättest du nicht genug Schlaf gekriegt – das ist der Job, stimmt’s? Er macht dich fertig. Du hast dir schon immer viel Sorgen gemacht, schon als kleines Mädchen, über Sachen, an denen du nichts ändern konntest, als könntest du persönlich jedes Tier heilen und, ich weiß nicht, jede Maus und jede Eidechse retten, die die Katze angeschleppt hat.«
    Ihre Mutter – in ihren Händen hält sie plötzlich zwei Eier, die sie über einer Rührschüssel aufschlägt, wobei sie Eigelb und Eiweiß trennt – erwartet eigentlich keine Antwort. Sie redet nur, um sich zu hören, es ist eine einsame Uhrzeit an einem grau verhangenen Morgen, und sie ist wach und geht in der Küche ihrer Tochter hin und her.
    »Ist das für Ed?« fragt Alma und setzt sich an den Tisch. »Der Saft, meine ich.«
    »Ich kann dir Eier machen. Willst du Eier? Du isst doch Eier, oder?«
    »Nein«, sagt sie und ist unvermittelt verärgert, »nein, ich will keine Eier.«
    »Du brauchst mich nicht gleich so anzufahren.«
    »Ich fahr dich doch gar nicht an.«
    »Doch!«
    »Nein«, beharrt sie, streckt die Hand nach Eds Saft aus und zieht das Glas mit einem leisen zischenden Geräusch über die Tischplatte zu sich. »Ich habe einfach keinen Hunger, das ist alles.«
    Die Eierschalen liegen auf der Küchentheke. Die Uhr am Herd zeigt 6:17. Ihre Mutter legt entschlossen den Schneebesen beiseite, dreht sich um und mustert sie. Drei Schritte in ihren Clogs, und sie beugt sich über Alma, legt ihr die Hand auf die Stirn und sieht ihr forschend in die Augen. »Ist alles in Ordnung?«
    Gerade als sie sagen will, dass es ihr tatsächlich nicht so gutgeht und sie sich eben auf der Toilette im ersten Stock übergeben hat und ihr Kopf sich anfühlt, als würde er sich jeden Moment von ihren Schultern lösen und durch den Raum schweben, begreift sie, was eigentlich los ist, und zieht den naheliegenden Schluss, zu dem jede andere Wissenschaftlerin, die seit eineinhalb Jahrzehnten biologische Prozesse untersucht, sofort gekommen wäre.
    »Mom?« Sie sagt es laut, doch ihre Stimme kommt ihr irgendwie elastisch vor, angespannt, dehnbar wie weicher Karamel. Die Wahrheit – die Erkenntnis – dringt wie ein unbezähmbarer Strom zu ihr durch, aber die Worte, mit denen sie sie aussprechen könnte, scheinen ihr in der Kehle steckenzubleiben.
    Ihre Mutter sieht sie an. »Ja?« sagt sie. »Was?«
    »Wie hast du … ich meine, wie hast du damals gemerkt, dass du schwanger warst?«
    In ihrer Eile, in Longs Drugstore zu sein, wenn sie öffnen – sonntags um acht Uhr –, hat sie kaum etwas anderes im Kopf als die Verwunderung über diesen Augenblick, über das, was mit ihr geschieht oder geschehen könnte. Sie muss drei Blocks weit gehen, vorbei an der Stelle, wo sie das Eichhörnchen überfahren hat – auf dem Asphalt ist nur noch ein dunkler Fleck zu sehen –, dann auf der Brücke die Schnellstraße überqueren und in den langen, gewundenen Streifen des Lower Village abbiegen. Sie ist beim Überqueren der Straße besonders vorsichtig und geht, als trüge sie bereits ein Neugeborenes auf dem Arm, denkt aber die ganze Zeit, dass sie erst Gewissheit haben muss, auch wenn es in den Augen ihrer Mutter bereits eine Tatsache ist. Ihre Mutter hat sie einfach umarmt und sich unbeholfen zu ihr hinuntergebeugt, um ihre Wange in einem Aufwallen von Hitze und Emotion an die ihrer Tochter zu drücken. Dann hat sie sich aufgerichtet und gelacht. »Ich hatte schon so einen Verdacht«, hat sie gesagt, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf schräg gelegt und übers ganze Gesicht strahlend, absolut strahlend, »aber ich wollte nichts sagen. Und ich weiß beim besten Willen nicht, warum es ›morgendliche Übelkeit‹ heißt – ich hab sechs Monate lang morgens und abends gekotzt, bis ich dachte, es wäre leichter, den Mount Everest in einem Bikini zu besteigen, als dich auch nur einen einzigen Tag länger

Weitere Kostenlose Bücher