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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Rattenfreunde, okay? Sind wir uns da einig?«
    Am 2. Dezember 1853 traf der Kapitän der S.S. Winfield Scott , eines Seitenraddampfers, der am Vortag von San Francisco zu der zweiwöchigen Reise nach Panama aufgebrochen war, eine fatale Entscheidung, die, ob sie nun auf Selbstüberschätzung, Übereifer oder einem schlichten Rechenfehler beruhte, dem Schiff und, im Lauf der Jahre, Generationen von Seevögeln zum Verhängnis wurde. Die S.S. Winfield Scott war erst drei Jahre zuvor in New York für den Linienverkehr zwischen dieser Stadt und New Orleans gebaut worden; 1851 wurde sie jedoch verkauft und in den Dienst an der Westküste gepresst, wo die Passagierzahlen nach der Entdeckung von Gold in Nordkalifornien geradezu explodiert waren. Sie war für rauhes Wetter gebaut, etwa siebzig Meter lang und zehn Meter breit und benannt nach Generalmajor Winfield Scott, dem Löwen des amerikanisch-mexikanischen Krieges, dessen vergoldete Büste mit strenger, unbewegter Miene über das Vorderdeck blickte. Auf der besagten Fahrt waren 465 Passagiere, 801 871 Dollar in Gold und Goldstaub sowie mehrere Tonnen Post und eine volle Besatzung an Bord. Ob die Ratten aus New York oder New Orleans oder dem Hafen von San Francisco stammten, wusste niemand. Aber sie waren da, wie sie hin und wieder auf jedem Schiff dieser Größenordnung waren, und die Winfield Scott schien ihnen zuzusagen: Der Speisesaal bot Platz für bis zu hundert Menschen, es gab Kombüsen und Vorratsräume sowie Tonnen voller Abfall, die darauf warteten, ins Meer entleert zu werden, und eine Unzahl feuchter Winkel und Löcher unter Deck und in den Aufbauten bot ihnen Unterschlupf – eine eigene Welt, getrennt von der jener anderen Allesfresser, die sie mit all den feinen Leckerbissen versorgten. Auf einem Schiff dieser Größe hätten Hunderte, ja mehr als tausend Ratten sein können – niemand konnte sagen, wie viele es waren, und diejenigen, die in die Fallen der Stewards gingen, schwiegen sich aus.
    Kapitän Simon F. Blunt war ein erfahrener, entschlossener Mann. Er war mit dem Santa-Barbara-Kanal vertraut, denn er war ein wichtiges Mitglied der Kommission gewesen, die zwei Jahre zuvor, kurz nach Kaliforniens Aufnahme in die Union, die Küste vermessen hatte. Als er am Vortag von San Francisco ausgelaufen war, hatte er mit schwerer See und starkem Gegenwind zu kämpfen gehabt, was nicht nur die Geschwindigkeit verminderte, sondern auch dafür sorgte, dass die meisten Passagiere sich von Salon und Speisesaal fernhielten und es vorzogen, in den Kojen zu bleiben. Um die verlorene Zeit wettzumachen, beschloss er, durch den Santa-Barbara-Kanal und die Anacapa-Passage zwischen Santa Cruz und Anacapa zu fahren, anstatt die Inseln seewärts zu umfahren, was deutlich länger gedauert hätte. Normalerweise wäre dies eine bewundernswerte – und zeitsparende – Entscheidung gewesen. Doch unglücklicherweise zog, als an jenem Abend das Essen serviert wurde, Nebel auf, wie es im Santa-Barbara-Kanal häufig geschieht, weil dort der kalte Kalifornienstrom, der von Norden nach Süden fließt, auf den wärmeren südkalifornischen Gegenstrom trifft, ein Umstand, der den außerordentlichen Fischreichtum im Kanal erklärt, diesen für die Schiffahrt aber auch sehr gefährlich macht. Infolgedessen war Captain Blunt gezwungen, seine Position nicht durch Sichtzeichen, sondern durch Koppeln zu ermitteln, wobei die zurückgelegte Distanz durch die Messung der Geschwindigkeit in festgelegten Intervallen berechnet wird. Dennoch war er zuversichtlich: Es war Routine, nichts, was ernste Schwierigkeiten gemacht hätte – er war diese Route ein Dutzendmal oder mehr gefahren –, und um zehn Uhr dreißig war er sicher, die Inseln passiert zu haben, und gab Anweisung, auf südöstlichem Kurs parallel zur Küste zu gehen.
    Eine halbe Stunde später rammte die Winfield Scott mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von zehn Knoten einen Felsen vor der Nordküste der mittleren Anacapa-Insel, der ein großes Loch in den Rumpf riss. Sogleich brach unter den Passagieren Panik aus. Sie wurden aus ihren Kojen geschleudert, Gepäckstücke flogen über die Decks, Laternen flackerten und erloschen, und die undurchdringliche Finsternis aus Nacht und Nebel senkte sich über das Schiff. Niemand konnte etwas sehen, doch alle spürten und hörten, was geschah: Irgendwo unten brach Wasser ein, und um ihm Platz zu machen, stieß das Schiff eine Reihe langgezogener Seufzer aus. Als die Passagiere auf die Beine kamen

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