Wenn das Schlachten vorbei ist
Papier, das vor ihm liegt, und liest vor: »Obgleich der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Vergehen mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich begangen hat, haben die zugelassenen und vorgelegten Aussagen und Beweismittel die verbleibenden Zweifel nicht ausräumen können. Da das Rattenbekämpfungsprojekt des National Park Service letztlich erfolgreich war, ist der Gegenstand des Verfahrens ohnehin hypothetisch geworden.«
Was ist das? Er merkt, dass die Stimmung sich verändert, dass der Saal wie mit einem kollektiven langen Ausatmen zum Leben erwacht. Er wendet den Kopf zu Sterling, der den Richter starr ansieht und sich bemüht, ein nüchternes Gesicht zu machen, obwohl das aufkommende Triumphgefühl bereits die Krähenfüße rechts und links der Augen vertieft und an den Mundwinkeln zupft. Alle sehen ihn an. Alle können ihn sehen. Sein T-Shirt. Seine Botschaft. Seine Absicht. Er spürt ein heißes Aufwallen von Freude, so intensiv wie ein Orgasmus: Freispruch!
»Daher«, verkündet der Richter im ständigen Kampf mit seinem Akzent, und er könnte jetzt hingehen und ihn küssen, »erkläre ich den Angeklagten für nicht schuldig.«
Später, als er, die Finger seiner rechten Hand mit denen von Anise verschränkt, mit Toni Walsh und der Frau vom örtlichen Fernsehsender im Korridor steht und die Kamera auf ihn gerichtet ist, hält er die kleine Rede, die er schon die ganze Woche im Kopf einstudiert hat. »Es ist doch ein Skandal, dass unsere eigene Bundesregierung das Füttern von wilden Tieren als Verbrechen bezeichnet, während sie es für in Ordnung und legitim hält, wahllos Gift über ihnen abzuwerfen.« Und was noch schöner ist: Er erhebt die Stimme und spricht so laut, dass man ihn bis zum Ende des gefliesten, schimmernden Korridors hören kann, und zwar genau in dem Augenblick, als Alma Boyd Takesue und Tim Sickafoose besiegt und niedergeschlagen aus dem Gerichtssaal schleichen, so dass es ihm vergönnt ist zu sehen, wie sie ihn anblickt und dann den Kopf abwendet, während er sich zu neuen rhetorischen Höhen aufschwingt: »Aber wenn diese Leute meinen, sie kommen damit durch, fünftausend wilde Schweine auf Santa Cruz abzuschlachten, sollten sie sich’s lieber noch mal überlegen.«
Er tritt einen halben Schritt zurück, lässt Anise los und hebt die Hand, zwei Finger zum Victory-Zeichen gespreizt. »Denn daraus wird nichts«, sagt er und schüttelt den Kopf, so dass die Dreads in Bewegung kommen und es aussieht, als würden sie sich aufstellen. »Nicht solange es die FPA gibt.«
Teil II
SANTA CRUZ
SCORPION RANCH
Rita war seit kurzem von einem Mann getrennt, der sie so oft verletzt hatte, dass sie sich gar nicht mehr erinnern konnte, wie und warum sie je den Entschluss gefasst hatte, mit ihm zusammenzusein, ihr Wagen war in der Werkstatt, mit einem systemischen Defekt, den sie nicht annähernd verstehen, geschweige denn bezahlen konnte, ihre Arbeit entsprach weder ihrer Ausbildung noch ihren Erwartungen, und sie hatte eine zehnjährige Tochter, die sie zu ernähren, zu kleiden und zu erziehen hatte. Es war Mai 1979, und all die guten Gefühle – die vibrations , der groove – jener hellleuchtenden Zeit, die ihr über sämtliche Fehlschläge und Enttäuschungen hinweggeholfen hatten, waren versiegt, versickert und verblasst, bis sie nur noch wütend war, wütend auf Toby, weil er sie verlassen hatte, wütend auf ihre Tochter, auf ihren Chef und den Vermieter, der zweihundertfünfzig Dollar im Monat für eine trostlose, muschelgraue Wohnung über einem Pizzaservice an der Route 1 in Oxnard verlangte, wo Nebel über allem hing wie der Tod und die Lastwagen vor dem Fenster, durch das so wenig Luft hereinkam, dass es ebensogut hätte zugenagelt sein können, nie aufhörten, Dieselabgase auszuspucken. Als ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Valerie Bruns also ein Stellenangebot erwähnte – eine Chance, das alles hier hinter sich zu lassen, einen Szenenwechsel vorzunehmen, als begänne jetzt der zweite Akt eines jener Stücke, in denen sie auf der High School mitgespielt hatte –, wurde sie hellhörig. Sehr hellhörig.
»Es ist auf einer Insel«, sagte Valerie.
»Einer Insel?« wiederholte sie. »Wie meinst du das, eine Insel?«
»Auf Santa Cruz.«
Rita hatte Valerie angerufen, weil es Freitag abend war und sie gedacht hatte, sie könnten gemeinsam ausgehen, etwas trinken, Musik hören, einfach ein bisschen herumhängen, aber Valerie war bei ihrer Mutter zum Abendessen eingeladen und
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