Wenn der Acker brennt
22. August 1982.
Als sie Jeremias aus dem Zimmer rollten, weinte Christine. Um ihn, um Amata, um ihre Eltern. Sie alle waren gegangen, und Rick, so schien es, war auf der Flucht vor sich selbst.
Am nächsten Morgen entdeckte eine Gruppe Wanderer den Toten am Gipfelkreuz. Karl Borgrieder hatte sich erhängt. Die Leute im Dorf waren ein paar Stunden lang erschüttert, widmeten sich aber schnell wieder hingebungsvoll den Ereignissen um ihren Bürgermeister, der ihnen so viel vertrauter gewesen war. Franz Burger hatte den letzten Bericht aus der Gerichtsmedizin ohne viel Aufhebens zu den Akten gelegt. Die Kugel, die Jeremias Rimbar getötet hatte, stammte aus derselben Waffe wie die secret bullet von vor dreißig Jahren. Alles passte zu seinem Geständnis, auch dass Judith, Schwabes Verlobte, vor dreißig Jahren sein erstes Opfer gewesen war. Zusammen mit denen von Rick und Christine hatte Jeremias’ Aussage keine Fragen offen gelassen. Der damalige Brand der Scheune, die Toten von damals und die neuen Mordfälle, alles war geklärt.
Christine hatte beschlossen, noch eine Weile in Sinach zu bleiben. Burger hatte ihr angeboten, in seinem Haus zu wohnen, worüber sich besonders Leni freute. Das Mädchen unterstützte Christine bei der Suche nach Fotos und Dokumenten, die ihr mehr über ihre Vorfahren erzählen konnten. Auch Gundi Moosbacher beteiligte sich und versorgte Christine mit alten Geschichten. Gundi war es auch, die ihr klarmachte, dass sie sich nicht in dem Wesen ihrer Mutter getäuscht hatte. Sie sollte ihr die Liebe, die sie für Leonhard und Jeremias empfunden hatte, nicht zum Vorwurf machen, und Christine beschloss, ihrer Mutter zu verzeihen. Barbara Rimbar, die von der Kur zurückgekehrt war, schenkte ihr die Fotosammlung ihres Mannes. Auch ihre eigene Leica, ihr Handy und Amatas Tagebuch, das in seinem Safe im Boden verstaut gewesen war, erhielt Christine zurück. Das Messer mit dem Schlangengriff, das ebenfalls gefunden wurde, wanderte allerdings schnurstracks in die Asservatenkammer von Franz Burger.
Alle schienen sich mit den Vorgängen der letzten Tage abzufinden, niemand gab Christine die Schuld daran, dass sich das Leben in Sinach von Grund auf verändert hatte. Nur eine wollte sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass Jeremias Rimbar seinen Tod selbst verschuldet hatte, und sprach bis zum Tag der Beerdigung mit niemandem: Maria Borgrieder, frisch gebackene Witwe und trauernde Geliebte.
Sinach hatte beschlossen, seinen Bürgermeister am selben Tag zu beerdigen wie Georg Denninger und Karl Borgrieder. Schwabe, der vierte Tote der letzten Tage, war bereits zu seiner Familie überführt worden.
Christine hielt sich von der Trauerfeier fern. Während Sinachs Bürger an einem sonnigen warmen Spätsommertag in der Friedhofskapelle Abschied nahmen, stand sie unter der Tanne vor Amatas Grab. Sie hatte darauf gepocht, dass die Grabstätte erhalten blieb und sofort bepflanzt wurde. Ein gelber Schmetterling flatterte über die dunkelroten Rosen hinweg, die Christine dort abgelegt hatte, verweilte kurz und flog wieder davon. Sie griff sich an ihren Hals, er fühlte sich leer an. Sie vermisste die Kette mit Amatas Edelweiß.
Als das Portal der Kapelle geöffnet wurde, eilte Leni an den Trauergästen vorbei auf sie zu. »Er ist da, und er sieht unglaublich gut aus«, raunte sie ihr ins Ohr und trat einen Schritt von Christine zurück, als Rick auf sie zukam.
Sie hatte die Harley auf der Straße schon bemerkt. Sein Auftauchen hatte ihr einen Stich versetzt. Sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, wenn sie ihn wiedersah.
»Christine.«
Sie wagte nicht aufzusehen, als er ihre Hand nahm und die Kette mit dem Edelweiß hineinfließen ließ.
»Danke«, sagte sie, aber er war schon weitergegangen. Leni hatte recht, Rick sah gut aus, der dunkle Anzug, sein Haar, das noch etwas länger geworden war.
»Ich helfe Ihnen.« Leni nahm die Kette und legte sie ihr behutsam um. »Er ist ganz bestimmt nur wegen Ihnen hier«, beteuerte sie.
Ach was, er hat mich nicht einmal richtig wahrgenommen, dachte Christine und schaute auf ihre Hand, die er gerade so zärtlich berührt hatte.
Fast das ganze Dorf hatte sich auf dem Friedhof versammelt. Die drei neuen Gräber lagen in der Reihe vor Amatas Grab. Maria schwieg, als der Sarg ihres Mannes hinuntergelassen wurde, weinte erst, als ihr Geliebter an der Reihe war. Barbara Rimbar war der Beerdigung ihres Mannes ferngeblieben. Sie hatte in aller Stille von ihm Abschied
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