Wenn der Golem erwacht
Arved! Wir wollen dich zwar lebend, aber bevor du uns abhaust, pusten wir dir lieber den kümmerlichen Rest deines Gehirns aus dem Schädel!«
Gegen die Übelkeit ankämpfend, starrte ich ihm entgegen. Mit leicht schwankendem Schritt kam er auf mich zu, die Glock 17 nur scheinbar lässig in der rechten Hand. Blut lief aus seinem linken Mundwinkel und befleckte sein weißes Hemd und das Sakko des taubengrauen Dreiteilers.
Er warf mir einen wütenden Blick zu. »So eine Schweinerei! Jetzt muss ich mich umziehen. So kann ich nicht auf dem Fest erscheinen.«
»Was für ein Fest?«, fragte ich.
Knaup wischte mit dem Handrücken das Blut von seinem Kinn, bevor er antwortete: »Die große Einweihungsfeier im Clay-Center.«
»Die … Ein-weihungs-feier?«, wiederholte ich Silbe für Silbe. »Die sollte doch am dritten Oktober stattfinden.«
»So ist es.«
Dann war heute der Tag der deutschen Einheit! Das bedeutete, dass Ricas und meine Fahrt in die Uckermark sechs Tage zurücklag. Sechs lange Tage, in denen ich gefangen gewesen war und unter Drogen gestanden hatte. Sechs Tage, während denen ich allmählich meine Erinnerungen zurückerlangte. Erinnerungen, die ich unter dem Einfluss der Drogen preisgegeben hatte. Mir blieb nur die Hoffnung, dass ich meinem Bruder nicht zu viel erzählt hatte.
Knaup fesselte erneut meine Fußgelenke. »Auf weitere Fehltritte bin ich nicht erpicht. Lieber tragen wir dich in den Helikopter, Arved.« Er verpasste mir eine schallende, schmerzende Ohrfeige. »Hätte ich mehr Zeit, wäre das noch lange nicht alles gewesen!«
Sie trugen mich tatsächlich. Der Stiernackige warf mich über seine Schulter, als sei ich ein nicht besonders schwerer Mehlsack. So ging es in ein weiträumiges flaches Gebäude. Über der Eingangstür hing ein Firmenschild: ›SLT – Schwer-Luft-Transport GmbH‹.
Zwei Männer in dunklen Lederjacken traten uns entgegen. Auch sie waren mir unbekannt – und bewaffnet, einer mit einer SIG-Sauer P228, der andere mit einer Heckler & Koch MP5K.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Knaup.
Der Mann mit der SIG-Sauer grinste. »Reibungslos. Sie liegen gleich rechts, ganz passend in einem Lagerraum.«
Er stieß eine breite Tür auf. Ich lag noch immer über der Schulter des Stiernackigen und musste mir fast den Hals verrenken, um in den Raum zu sehen.
Zwischen Kisten unterschiedlicher Größe lagen vier Männer und eine Frau wie achtlos hingeworfene Puppen. Die roten Pfützen zwischen ihnen, die blutigen Wunden und die glasigen Augen verrieten mir, dass sie tot waren, ermordet. Von Knaups Komplizen, die ihn hier erwartet hatten. Auf Befehl meines Bruders? Wahrscheinlich, zumindest aber mit seinem Wissen und seiner Billigung.
Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, zeigte auf mich. »Ist das die Lieferung?«
Knaup nickte.
»Ihr seid nicht gerade früh dran«, fuhr der Mann in der Lederjacke fort.
»Der Verkehr.« Knaup setzte eine verdrießliche Miene auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass heute am Feiertag so viel auf den Straßen los ist.«
Der Mann in der Lederjacke zuckte mit den Schultern. »Wir fangen besser gleich an.«
»Einverstanden«, sagte Knaup und griff in eine Tasche, um dem anderen zwei Schlüssel zu reichen. »Für die Handschellen. Aber seid vorsichtig, er keilt aus wie ein wütender Ochse. Ich verabschiede mich, muss zum Dienst.«
»Sei vorsichtig«, erwiderte der andere mit einem schiefen Grinsen. »Pass auf, dass du nicht zu nah beim Kanzler stehst!«
Mit ohrenbetäubendem Lärm flog der schwere zweimotorige Helikopter über die Dächer Berlins. In der Nähe von Schönefeld waren wir aufgestiegen, und es war ein langer Flug gewesen. Der russische Transporthubschrauber flog aus Rücksicht auf seine Last mit sehr niedriger Geschwindigkeit.
Wenn ich mich an der Seitenwand hochschob und aus einem der runden Fenster blickte, die an die Bullaugen bei einem Schiff erinnerten, konnte ich das große Paket sehen, das unter dem Helikopter an einem Stahlseil hing. Sechs Meter hoch und wohl auch reichlich schwer. Und mit einer dicken Plane verhüllt. Es gehörte zur Inszenierung der Show, dass die Öffentlichkeit die General-Clay-Statue in ihrer ganzen Pracht erst zu Gesicht bekam, wenn sie auf dem Dach des neuen Centers stand.
In einer Ecke stand ein tragbares Radio, das auf voller Lautstärke plärrte, um das tiefe Brummen der beiden Motoren und das Rotorgeknatter zu übertönen. Es war ein Live-Bericht von der Eröffnung des Clay-Centers, wo man in
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