Wenn der Golem erwacht
Anwesenheit des Bundeskanzlers Arnulf Zander auf das Eintreffen der Statue wartete.
Pass auf, dass du nicht zu nah beim Kanzler stehst!
Dieser Satz hallte mir in den Ohren wider. Der Mann, der ihn gesagt hatte, saß an der gegenüberliegenden Wand und machte einen sehr gelassenen Eindruck. Er hatte dunkles Haar und gebräunte Haut. Mit dem schwarzen Bart um Mund und Kinn wirkte er wie ein Südländer, aber er sprach deutsch ohne jeden Akzent.
Außer ihm saßen der Stiernackige und der Nervöse in diesem Teil des Hubschraubers. Beide hatten ihre Pistolen demonstrativ auf dem Schoß. Der Nervöse sah mich unentwegt an. Aber was konnte ich, an Händen und Füßen gefesselt, schon ausrichten?
Während mein Körper gefesselt war, arbeitete mein Verstand auf Hochtouren. Schnell war mir klar geworden, dass die fünf Ermordeten in dem Lagerraum die eigentliche Besatzung des Hubschraubers waren, plus Bodenverstärkung. Die Komplizen Knaups – und damit auch die meines Bruders – hatten sie aus dem Weg geräumt, um sich des Hubschraubers zu bemächtigen. Aber wozu brauchten sie das schwere Fluggerät mitsamt seiner ungewöhnlichen Fracht?
Gewiss war es nicht das Anliegen dieser Männer, die Clay-Statue auf dem Dach des Centers abzusetzen. Sie benötigten den Helikopter, um ungehindert zum Center zu gelangen. Jeder würde den Hubschrauber sehen, und niemand ahnte, dass sich in seinem Innern Mörder verbargen.
Pass auf, dass du nicht zu nah beim Kanzler stehst!
Dieser Satz ging mir nicht aus dem Kopf. Er war der Schlüssel zu allem. Als vor uns das Grün des Tiergartens auftauchte, wusste ich, was sie planten. Es sollte so etwas wie das perfekte Verbrechen werden – das perfekte Attentat!
»… sehen wir deutlich die Silhouette des großen Hubschraubers aus Richtung des Potsdamer Platzes einfliegen. Unter ihm hängt die Statue von General Lucius D. Clay, auf deren Enthüllung durch Bundeskanzler Zander alle gespannt warten. Fast noch gespannter, liebe Hörer, sind wir alle aber auf das schwierige Manöver, bei dem die Statue auf das Dach des Clay-Centers gestellt werden soll. Ist es nicht eine Ironie, dass der Mann, der während der Blockade die Luftbrücke aufgebaut hat, jetzt selbst durch die Luft gebracht wird? Aber zurück zu dem Manöver des Aufstellens. Zu diesem Zweck steht hier unten bereits eine Bodencrew unter der Leitung eines Mitarbeiters der Schwer-Luft-Transport GmbH bereit. Er wird im ständigen Funkkontakt mit der Besatzung des Hubschraubers …«
Ohne weiter auf den Radiosprecher zu achten, sah ich den Mann mit dem schwarzen Bart an und sagte: »Das ist euer Fehler! Der SLT-Mitarbeiter am Clay-Center wird euch beim ersten Funkkontakt durchschauen!«
Der Mann, der vor zwei Minuten ein Präzisionsgewehr aus einem länglichen, gefütterten Kasten geholt und einsatzbereit gemacht hatte, gestattete sich ein mitleidiges Lächeln. »Für wie dämlich hältst du uns. Der echte SLT-Mann liegt bei den anderen Leichen. Der da unten ist einer von uns.«
»Und welche Rolle spiele ich dabei?«
»Du bist der Killer, den man im gelandeten Hubschrauber finden wird.«
Natürlich! Ich hatte mir so etwas gedacht, es aber nicht wahrhaben wollen. Mir also wollte Einar sein Komplott in die Schuhe schieben. Mir oder Robert Fuchs? Im Ergebnis blieb es sich gleich.
Nur eins war mir nicht ganz klar: »Wie wird man mich finden, lebend oder tot?«
Während er das Zielfernrohr auf dem Gewehr überprüfte, erwiderte der Bärtige: »Zuviel Wissen macht Kopfweh. Außerdem ist dann die ganze Spannung weg, nicht?«
Es dämmerte bereits, und unter uns funkelten die Lichter der Großstadt. Vor uns erstrahlte am Ostrand des Tiergartens ein großes Areal, das von Flutlichtern erleuchtete Clay-Center.
Der Radiosprecher erklärte: »Deutlich sehe ich die Positionslichter des russischen Transporthubschraubers über dem Rand des Tiergartens. Wir befinden uns im Zeitplan. Ganz bewusst wurde das Aufstellen der Statue auf den Abend gelegt. Danach nämlich soll, als Krönung der Feierlichkeiten zum Tag der Einheit, ein gigantisches Feuerwerk über dem Tiergarten zu sehen sein. Tausende von Berlinern und Zugereisten sind auf den Beinen, um das Schauspiel mitzuerleben.«
Wäre das, was die Männer in diesem Helikopter schon getan hatten und was sie noch planten, nicht derart verabscheuungswürdig gewesen, hätte ich für sie so etwas wie Respekt empfunden. Den Bundeskanzler vor tausend und abertausend Zeugen zu ermorden, war ein
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