Wenn der Golem erwacht
Unglaubliche Hitze hüllte mich für Sekunden ein, und die Explosion des Helikopters war so laut, als fände sie mitten in meinem Kopf statt. Ich presste mein Gesicht ins Gras und hoffte, von dem entflammten Treibstoff verschont zu werden.
Irgendwann wagte ich es, mich umzublicken. Das Wrack des Helikopters war ein einziger Feuerball, und die Hitze ließ mich in Schweiß ausbrechen.
Ich rollte weiter auf den Waldrand zu. Meine noch von der Explosion schmerzenden Ohren nahmen ein Geräusch wahr, ohne dass ich es näher bestimmen konnte. Erst als zwischen den Bäumen vor mir Lichter auftauchten, wusste ich, dass es ein Automotor war.
Wer konnte so schnell hier sein? Leute, die zu meinem Bruder gehörten?
Ich hatte nicht die Möglichkeit zu fliehen oder mich zu verbergen. So blieb ich einfach am Rand der Wiese liegen und wartete auf das Fahrzeug, das sich auf einem schmalen, unbefestigten Weg näherte.
Es war ein offener Wagen altertümlicher Bauart, wie aus einem Kriegsfilm. Ein Kübelwagen. Am Steuer saß ein korpulenter Mann. Unter dem Schirm der Feldmütze erkannte ich das runde Gesicht von Hugo Bartsch.
Neben ihm saß eine viel schmalere Gestalt, die neben Bartsch geradezu zerbrechlich wirkte. Sie trug Rangerhosen und eine Outdoorweste über einer karierten Bluse. Blondes Haar wehte im Fahrtwind.
»Rica!«, krächzte ich, als der Kübelwagen vor mir anhielt.
Ihre Augen huschten zwischen dem brennenden Wrack und mir hin und her, und sie sagte grinsend: »Sieht so aus, als würde ich dir gerade zum zweiten Mal in höchster Not den Arsch retten. Beim dritten Mal musst du mich heiraten!«
22
D u bist wirklich der Bruder von Dr. Kranz?«
Rica sah mich an, als hätte ich erklärt, ich sei der nur totgeglaubte Elvis Presley.
Ich hatte ihr und Hugo Bartsch alles erzählt, was ich selbst wusste. Wäre ich ein Romanautor gewesen, hätte ich einiges weggelassen, um nicht unglaubwürdig zu klingen. Aber das wirkliche Leben unterscheidet sich vom Roman dadurch, dass es nicht an die Regeln von Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit gebunden ist. Das konnte wohl niemand besser bekräftigen als ich. Und so konnte ich Rica nicht böse sein, als sie mit dem Reinigen, Desinfizieren, Verbinden und Bepflastern meiner zahlreichen kleinen Wunden innehielt und mich betrachtete wie einen neuen Münchhausen.
»Ich bin sein Bruder«, bekräftigte ich. »Und darauf bin ich alles andere als stolz.« Als sie mich nur stumm anstarrte, fragte ich: »Überlegst du, in welche Klapsmühle du mich einsperren lässt?«
»Ich habe Arved Kranz nie getroffen, kenne ihn nur von Fotos. Dein jetziges Gesicht oder dein richtiges, ich versuche mir den Unterschied vorzustellen.«
»In Ordnung. Gib mir nur rechtzeitig vor unserer Hochzeit Bescheid, welches Gesicht du vorziehst, damit ich noch einen plastischen Chirurgen aufsuchen kann, bevor ich zum Standesamt komme.«
»Zum Standesamt?« Rica machte ein empörtes Gesicht. »Damit ist es nicht getan. Ich bestehe auf kirchlicher Trauung, mit weißem Brautkleid und Schleier und so weiter. Stell dich darauf ein!«
Hugo Bartsch betrat das Badezimmer, in dem Rica mich verarztete. »Im Fernsehen läuft gerade ein großer Bericht über den Vorfall am Clay-Center. Solltet ihr euch ansehen, falls ihr mit Turteln fertig seid.«
»Wir kommen gleich«, sagte Rica und klebte das letzte Pflaster auf mein linkes Knie.
Ich zog frische Sachen an, die Bartsch rausgesucht hatte. Da seine Kleidergröße mit der meinen nicht im mindesten kompatibel war, kam die Kleiderspende aus seinem Uniformfundus. So trug ich das blaue Hemd eines Nordstaatlers aus dem amerikanischen Bürgerkrieg und die kakifarbene Hose des deutschen Afrika-Korps.
Der Gang vor dem Badezimmer war zu beiden Seiten mit Vitrinen vollgestellt, in denen Modelle berühmter Kriegsschiffe standen, von der antiken Galeere über große Segelschiffe bis zu den gepanzerten Ungetümen des zwanzigsten Jahrhunderts. Den Wohnraum, in dem Bartsch vor dem Fernseher saß, zierten zerschlissene Flaggen und Gemälde großer Feldherren. Rica und ich ließen uns auf ein braunes Ledersofa sinken und sahen auf dem Bildschirm eine schmallippige Reporterin vor dem Clay-Center stehen.
»Noch immer warten wir auf eine offizielle Verlautbarung über die Geschehnisse des heutigen Abends: Auch wenn weder vom Bundeskanzleramt noch vom Innensenator bislang eine Bestätigung vorliegt, ist davon auszugehen, dass wir es mit einem Attentatsversuch zu tun haben. Opfer des
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