Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
Bewegung über meinem Ei.
    Max verfolgte das aufmerksam. »Sieht aus wie ein Ritual. Machst du das immer so?«
    Verblüfft starrte ich auf die Curryreste an meinen Fingerspitzen. »Keine Ahnung.«
    Max wollte wissen, was mit mir und meinem Gedächtnis los sei. Seine Neugier war verständlich, und so erzählte ich ihm während des Essens eine Geschichte, die sich aus Dichtung und Wahrheit zusammensetzte. Der Schwerpunkt lag auf der Dichtung, zumal die Wahrheit für mich selbst im Dunkeln lag. Dabei hielt ich mich in etwa an das, was man mir in der obskuren Klinik aufgetischt hatte: Ich sei angefahren worden und hätte bei dem Unfall mein Gedächtnis verloren.
    »Kapier ich nicht«, sagte Max kopfschüttelnd. »Kannst du nicht zum Fernsehen gehen, damit die dein Bild ausstrahlen? Das muss für die TV-Fritzen doch ein gefundenes Fressen sein! Oder geh zu den Bullen, die dann mal für was gut wären.«
    »Beide Wege möchte ich lieber nicht beschreiten.«
    »Warum nicht?«
    »Sagen wir so: Ich habe Grund zu der Annahme, dass die Bullen mich nicht so leicht wieder gehen lassen würden. Und wenn ich mich im Fernsehen präsentiere, dürfte das Ergebnis ähnlich ausfallen.«
    »Hm«, machte Max und schluckte den Rest seines Spiegeleis hinunter. »Ich habe den Eindruck, du erzählst mir nicht alles.«
    »Es würde dich nur verwirren, ebenso wie mich.«
    »Ganz wie du meinst.« Er schob seinen Teller zurück und stand auf. »Ich gehe duschen. Zeitungen liegen hier, der Fernseher steht vor deiner Nase, und Bier ist im Kühlschrank. Falls Otto unruhig wird, geh doch mit ihm kurz vor die Tür.«
    Kaum war sein Herrchen im Bad verschwunden, wurde Otto unruhig. Ich konnte nirgends eine Hundeleine entdecken und öffnete deshalb einfach die Wohnungstür. Der Hundekoloss schlüpfte hinaus auf den dunklen Gang und schlug einen anderen Weg ein, als den, den ich mit Max gekommen war. Vielleicht eine gute Gelegenheit, dieses seltsame Gebäude etwas besser kennen zu lernen.
    Otto legte ein schnelles Tempo vor, und ich musste stramm gehen, damit er mir nicht davonlief. Normalerweise hätte ich mir in den finsteren Gängen wohl die eine oder andere Beule zugezogen. Aber die seltsame Fähigkeit, das Radargerät in meinem Kopf, warnte mich rechtzeitig vor jedem Hindernis.
    Otto lief durch einen großen Raum voller Kulissen aus Sperrholz und Pappmache. Durch das blinde Glas schmaler hoher Fenster fiel ein Hauch von Licht herein. Gemalte Häuser und Berge waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt und wirkten auf mich wie eine ausgestorbene Welt, die ihrem unvermeidlichen Ende entgegendämmerte.
    Ottos Ziel war die Außenwand. Hinter der großen Holzkulisse eines griechischen Tempels befand sich eine Tür, an der er jaulend kratzte. Sie war verschlossen, aber der Schlüssel steckte. Draußen schlug uns ein Sprühregen entgegen, was Otto nicht davon abhielt, zu einer krummen Linde zu laufen. An dem alten Baum, der seine Krone mühsam in den dunklen Himmel reckte, verrichtete er sein Geschäft.
    Auch ich trat in den Regen und blickte mich um. Ich stand auf einem Innenhof. Das Theater war ein sehr verwinkelter Bau mit mehreren solcher kleiner Patios. Auch Max' Wohnzimmer führte auf einen Hof hinaus. Dieser hier wirkte ähnlich verwahrlost wie der Außenbereich, den ich bei unserer Ankunft gesehen hatte. An der Hauswand türmten sich ein paar alte Schränke, ein Bettgestell aus Messing und zwei verrottete Matratzen.
    Von irgendwo drang Musik und Gelächter herüber, hin und wieder ertönte das nervige Hupen eines Autos. Dieses alte Theater war eine Insel inmitten der frisch aufgemöbelten Spandauer Vorstadt, ebenso zum Untergang verurteilt wie die Kulissenwelt drinnen im Lagerraum. Irgendwann würde mit Bulldozer und Abrissbirne das Jüngste Gericht für den seltsamen Unterschlupf von Max und Otto hereinbrechen, um auch an diesem Flecken ein Stück des neuen Berlins entstehen zu lassen: Mit Leben erfüllt bis zum Kneipenschluss, zugänglich nur für Leute mit dicker Brieftasche.
    Hier, wo vor hundert, zweihundert Jahren einmal die Ärmsten der Armen gehaust hatten, in Mietskasernen, in denen ganze Familien in winzigen Zimmern zusammengepfercht waren. Tagelöhner, Bettler, Juden und Katholiken, die Außenseiter des alten Berlins. Inzwischen gab es neue Außenseiter, die Verlierer der Wohlstandsgesellschaft, aber hier war für sie kein Platz mehr. Die engen Gebäude des Scheunenviertels wurden in den 1920er Jahren abgerissen. Die schummrigen

Weitere Kostenlose Bücher