Wenn der Golem erwacht
Rotlichtlokale der Münz- und der Mulackstraße waren schon nicht mehr Legende, nur noch Vergangenheit.
Die Gedanken strömten auf mich ein, als hätte die frische Luft mein Gehirn beflügelt. Mir schien, ich hatte dieselben Gedanken schon einmal gehabt, an ebendiesem Ort. Aber wie sollte ich einem Gehirn trauen, das verrückt spielte und mir den Zugang zu mir selbst verwehrte?
Ein knappes Bellen riss mich aus den Überlegungen. Vor mir stand Otto und stieß seine platte Schnauze gegen meinen Oberschenkel. Offenbar wollte er jetzt, wo sein Bedürfnis erledigt war, möglichst rasch zurück ins Trockene. Mich wunderte die Zutraulichkeit, die das Tier mir gegenüber zeigte. Bei unserer ersten Begegnung vor etwa einer Stunde schien Otto noch geneigt, mich beim kleinsten Anlass zu zerfleischen.
Zurück in der Lagerhalle, fiel mir der muffige Geruch von altem Leim und Farben auf. Die Ausdünstungen der Kulissen schienen sich untrennbar mit den Mauern verbunden zu haben. Der Staub verriet, dass hier schon seit Jahren niemand mehr etwas bewegt hatte. Ein Friedhof, auf dem Träume vermoderten.
In der Wohnung hörte ich das Rauschen der Dusche und undeutlich Max' rufende Stimme: »Mein Badetuch! Ich habe mein Badetuch vergessen!«
»Wo liegt es?«, rief ich zurück.
»Großer Schlafzimmerschrank, linke Seite oben.«
Das Schlafzimmer war nicht schwer zu finden. Es lag hinter der einzigen geschlossenen Tür. Ich knipste das Licht an, und ein Kronleuchter wie aus einem alten Film tauchte den Raum in warmes gelbes Licht. Das große Bett war nicht gemacht, auf dem Nachttisch lag aufgeschlagen Klaus Manns ›Mephisto‹. Die Wände waren mit gerahmten Schwarzweißfotos geschmückt. Regisseure, Schauspieler, einige in Bühnenkostümen. Ich erkannte nur wenige, meist aus alten Filmen: Gustaf Gründgens als Mephisto, Marlene Dietrich als fesche Lola, Heinrich George und ein sehr junger Theo Lingen.
Ein Fenster zeigte hinaus auf einen buschbewachsenen Grünstreifen, hinter dem eine Leuchtreklame blinkte. Das geschlossene Fenster reduzierte den Straßenlärm auf ein dumpfes Rauschen. Vor dem Fenster hing ein kleines ausgebleichtes Bild, Seidenmalerei, das einen Fisch und ein Seepferd zeigte, die einander neugierig betrachteten. Das Motiv wiederholte sich bei einem Mobile, das sich im Luftzug der von mir geöffneten Tür über dem Bett drehte. Fische und Seepferdchen umkreisten einander wie auf einer Tanzfläche.
Ich konnte mir nicht helfen, aber das Schlafzimmer hatte irgendwie einen femininen Touch. Der Eindruck verstärkte sich, als ich den Schrank öffnete. Damenunterwäsche und eine Packung Binden waren nicht das, was ich erwartet hatte. Röcke und Kleider auch nicht und ebenso wenig die Pumps, die auf dem Schrankboden standen. Vielleicht lebten Max und Otto hier nicht ganz so allein, wie ich geglaubt hatte.
Mit einem großen Frottétuch, das ich von einem ganzen Stapel nahm, ging ich ins Badezimmer, wo der Duschstrahl gerade mit einem protestierenden Röcheln erstarb. Der Duschvorhang aus schwerem Plastik wackelte und wurde zurückgeschoben.
»Gibst du mir das Badetuch?«, fragte eine helle Stimme.
Ich reagierte nicht, stand einfach nur da und sah die nackte Frau an. Sie war schön, ohne Zweifel. Schlank und durchtrainiert, mit kleinen festen Brüsten. Ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Das dunkle Haar war kurz geschnitten und klebte jetzt, wo es nass war, wie ein Helm an ihrem Kopf. Eine Stupsnase gab dem ovalen Gesicht einen frechen Ausdruck, der noch verstärkt wurde, als sie ihre sanft geschwungenen Lippen zu einem maliziösen Lächeln verzog.
»Noch keine nackte Frau unter der Dusche gesehen?«
Ich schluckte. »Keine, die vor wenigen Minuten noch ein Mann gewesen ist.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal.« Sie streckte eine schlanke Hand nach mir aus. »Krieg ich jetzt das Tuch?«
Ich gab es ihr und wandte mich widerwillig ab, um das Badezimmer zu verlassen. Die weibliche Version von Max war ein verlockender Anblick. Jetzt erst bemerkte ich den falschen Bart und die Perücke auf einer Ablage.
»Und wie heißt du wirklich?«, fragte ich meine Gastgeberin zwanzig Minuten später im Wohnzimmer.
Die Frau hockte mit angewickelten Beinen auf einem zweisitzigen Sofa. Sie trug Jeans und ein enges T-Shirt, unter dem sich die Rundungen ihrer Brüste abzeichneten. Ihr Make-up war sehr dezent, was bei ihrer natürlichen Schönheit genügte. Otto hatte sich vor dem Sofa ausgestreckt und döste vor sich hin.
»Ich
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