Wenn der Golem erwacht
kann ich keine zwanzigtausend im Monat verdienen. Du etwa?«
»Zwanzigtausend?« Ich stieß einen schrillen Pfiff durch die Zähne, und Otto zuckte zusammen. »Ich glaube nicht«, sagte ich ehrlich. Zwar hatte ich keine Ahnung, welchen Beruf ich vor meinem Blackout ausgeübt hatte, aber ich hielt mich nicht für einen Topverdiener. »Aber das meinte ich nicht. Warum versuchst du, den Kasten zu halten. Wenn wir ehrlich sind, ist es eine Ruine.«
»Und wenn das Haus so kaputt wäre wie die Gedächtniskirche, ich würde es nicht hergeben. Es bedeutet hundert Jahre Familiengeschichte!«
»Hundert Jahre Vergangenheit«, sagte ich. »Aber wo liegt die Zukunft?«
»Ich will das Theater wieder eröffnen«, antwortete Max zögernd.
»Gibt es schon konkrete Pläne?«
Ich wusste nicht, weshalb ich diese Frage stellte. Die Antwort kannte ich im Voraus, und ich wurde bestätigt, als Max in einer Mischung aus Scham und Resignation die Augen niederschlug. Vielleicht wollte ich ihr nur klarmachen, wie aussichtslos ihr Ansinnen war. So aussichtslos wie ihr ganzes derzeitiges Leben. Sie klammerte sich an die Vergangenheit und spielte Robin Hood. Ein Spiel, das sie in den Knast bringen konnte. Und das wollte ich nicht.
Warum nicht? fragte ich mich. Ich mochte sie und hätte sie jetzt, wo sie zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind auf dem Sofa hockte, am liebsten tröstend in die Arme genommen.
Ich Narr!
Ich kannte sie keine drei Stunden und war schon dabei, mich zu verlieben. Gerade das konnte ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Wer immer auch hinter mir her war, ging die Sache nicht mit Samthandschuhen an.
Und außerdem wusste ich nicht, welche Gefahr von mir selbst ausging. Vielleicht war ich ein gemeingefährlicher Irrer, ein entsprungener Serienmörder.
Andererseits sollte ich vielleicht froh sein: Wenn ich noch so etwas wie Liebe empfand, konnte mein limbisches System nicht ganz und gar im Eimer sein.
»Der Tag war lang und anstrengend«, sagte ich und stand auf. »Ich glaube, ich lege mich aufs Ohr.«
»Das ist wohl am besten«, erwiderte Max und führte mich über den dunklen Gang zu einem kargen, halbwegs sauberen Zimmer. In einer Ecke stand ein Bett, das mindestens zwanzig Jahre auf dem Gestell hatte, aber besser war als der nackte Fußboden. Davor stieß ein Kleiderschrank fast an die hohe Decke. Max klopfte an die Schranktür. »Da drin sind jede Menge Klamotten, auch Pyjamas. Eine Tür weiter gibt's ein Waschbecken und ein Klo. Fühl dich wie zu Hause. 'Nacht!«
Ehe ich etwas antworten konnte, war ich schon allein. Offenkundig hatte ich Max mit meiner letzten Frage verstimmt. Ich bedauerte es. Sie hatte nur Träume und ihre Vergangenheit. Warum sollte ich ihr das kaputtreden? Ich hatte kein Recht dazu und keinen Grund.
Gerade ich, der ich nicht mal eine Vergangenheit hatte, nur böse Träume.
6
F ort von hier, nach oben! Das ist mein einziger Gedanke. Nur nicht in die Gesichter der Toten sehen, die am Meeresgrund auf mich lauern!
Ich kenne ihre bösen Blicke und fürchte mich davor. Meine heftigen Schwimmbewegungen wirbeln das Wasser durcheinander, doch die Fische ziehen ruhig an mir vorüber, als sei ich gar nicht existent.
Schon glaube ich mich der rettenden Oberfläche nahe, da taucht über mir ein mächtiger Schatten auf. Um ein Vielfaches größer als ich selbst, durchschneidet er das Wasser. Ich bemerke eine große Flosse am Ende des länglichen Gebildes, aber ich kann es nicht deutlicher sehen. Es kann ein U-Boot sein oder ein Hai. Nur eins ist sicher: Es versperrt mir den Weg nach oben, schneidet mich ab von Licht, Luft und Leben.
Soll ich hier unten bleiben, bis ich an dem roten Nass ersticke und darin ertrinke? Will das Wesen über mir mich zurück in die Arme der Toten treiben?
Ich suche einen Ausweg, will zur Seite schwimmen, unter dem riesigen Schatten hindurchtauchen. Ein Fischschwarm strömt mir entgegen, nimmt mir die Sicht und die Orientierung. Verzweifelt drehe ich mich im Wasser, im Blut, da höre ich einen dumpfen Knall. Und das Bild verschwimmt, das rote Nass versickert, die Fische und der Schatten lösen sich auf, die Toten verblassen.
Endlich bin ich, noch von Feuchtigkeit bedeckt, an der Luft, die ich in gierigen Zügen einatme …
Nur allmählich nahm ich die veränderte Umgebung wahr, die fast im Dunkeln lag. Durch ein schmutzblindes Fenster drang schummriges Licht ein, gerade genug, um das Zimmer in seinen groben Umrissen zu zeigen. Ich erinnerte mich an Max
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