Wenn der Golem erwacht
verdienen. Für mich sind maximal fünfhundert drin.«
»Gleich muss ich weinen«, sagte ich mit unbeteiligter Stimme.
Er warf mir einen zornigen Blick zu, beruhigte sich aber schnell. »Siehst auch nicht gerade aus, als hättest du das Gehalt eines Topmanagers. Die kostenlose Fahrt hast du dir verdient, weil du die Klappe gehalten hast. Wo soll ich dich absetzen?«
»Bei dir zu Hause.«
»Spinnst du?«
»Keine Ahnung.«
»Hör zu, mein Freund. Meinetwegen fahr ich dich quer durch die Stadt, kein Problem. Aber weiter geht meine Hilfsbereitschaft nicht.«
»Da würde ich nicht drauf wetten.«
Eine ruckartige Bewegung des Fahrers am Lenkrad, und der Wagen geriet ins Schlingern, kam gerade noch, ohne Schaden anzurichten, in einer Hofeinfahrt zum Stehen. Der Bärtige schaltete die Innenbeleuchtung ein und musterte mich durchdringend. Täuschte ich mich, oder lag in seinem Blick der Ausdruck des Wiedererkennens?
Dann aber fragte er mit harter Stimme: »Wer bist du?«
»Du glaubst nicht, vor welche Schwierigkeiten deine Frage mich stellt.«
»Was willst du von mir?«
»Was zu essen, eine heiße Dusche und ein Bett.«
»Und dann?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Hast du keine Unterkunft?«
»Eigentlich schon, aber meine Suite im Adlon wird zur Zeit renoviert.«
»Du bist ziemlich bekloppt.« Er lachte heiser. »Und ich auch, weil ich dich mitnehme.«
5
M ein Gehirn musste wirklich stark angeknackst sein. Anders war das Gefühl nicht zu erklären, das mich beim Anblick des verschachtelten Gebäudes in einer versteckten Ecke der Spandauer Vorstadt überfiel. Déjà-vu, schon wieder!
Aber der ganze heruntergekommene Straßenzug war mir fremd, und ich konnte das Gebäude, auf das der Golf zuhielt, nicht einordnen. Vielleicht lag es an meinen krampfhaften Versuchen, mich an irgendetwas zu erinnern, dass mich immer wieder das Gefühl der Vertrautheit überfiel. Eine Reaktion meines Verstands auf die eigenen Lücken. Er gaukelte mir etwas vor, um mich zu beruhigen.
»Was hast du?«, fragte der Bärtige und ließ den Wagen in eine schmale Einfahrt rollen.
»Ich weiß nicht. Mir war eben so komisch.«
»Wahrscheinlich musst du was essen.«
»Wahrscheinlich.« Mein Magen knurrte tatsächlich und unterstrich seine Forderung mit einem schmerzhaften Ziehen.
Der Golf kam in einem Zwitter zwischen Garage und Bretterverschlag zum Stehen, und der Fahrer stieg aus. Den Sony-Camcorder nahm er mit.
Auch ich verließ den Wagen und blickte mich neugierig um. Von Nahem wirkte das Gebäude noch größer – und noch verfallener. Protzige Säulen und Stuckverzierungen ließen mich zu dem Schluss kommen, dass der Bau noch aus der Zeit des Großbürgertums stammte. Viele Fenster waren zerbrochen, die anderen vor Schmutz blind. Der ehemals wohl weiße, jetzt dunkelgraue Verputz blätterte großflächig ab. Graffiti riefen zum Kampf gegen Kapitalismus, die NATO und die Mehrwertsteuer auf. Ringsum erstreckte sich eine ungepflegter Wiese, die mit Abfall überhäuft war, vorwiegend Bier dosen und Mehrliterflaschen billigen Weins. Nichts, was mir vertraut vorkam.
»Nette Gegend«, sagte ich.
»Nicht mehr lange. Das ganze Viertel ist nach der Wende verkauft und saniert worden. Früher gab's hier Menschen, jetzt Anwalts- und Finanzberatungskanzleien und jede Menge schicker Restaurants und Kneipen. Irgendein kluger Kopf hat ausgerechnet, dass jeder Einwohner hier seinen eigenen Platz am Restauranttisch oder an der Theke hat.«
Ich warf einen abschätzigen Blick auf das Gebäude. »Hier sieht's nicht gerade saniert aus.«
Wieder erklang sein heiseres Lachen. »Wir in diesem Straßenzug sind die letzten Widerständler. Ein kleines, tapferes Dorf, umgeben von den Legionen der Wendegewinner.«
Lautes Hundegebell erscholl, und ein hässliches Fleischpaket sprang auf vier kräftigen Beinen heran. Eine echte Promenadenmischung, allerdings mehr Mischung als Promenade. Boxer, Bulldogge, Mastiff, Bernhardiner, alles schien vertreten. Das leicht zottelige Fell konnte sich nicht entscheiden, ob es braun, grau oder schwarz sein wollte. Das beeindruckende Vieh blieb kurz vor mir stehen und überschüttete mich mit einem Stakkato aus Gebell und Geifer. Dabei zeigte es Zähne, die einem Löwen zur Ehre gereicht hätten.
Der Bärtige streichelte den wuchtigen Hundeschädel. »Ist in Ordnung, Otto. Der Typ ist etwas schräg, aber okay.«
Der Hund hörte auf, mich mit ohrenbetäubendem Lärm und klebriger Feuchtigkeit zu überschütten, und
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