Wenn der Golem erwacht
vermisst wurden, lag die Vermutung nahe, dass es dem Killer oder seinem Auftraggeber um den Inhalt des Safes gegangen war.
Das war ein Hinweis, aber noch längst keine Spur. Denn, wie Rica schon gesagt hatte, niemand schien zu wissen oder sagen zu wollen, was der Safe enthalten hatte. Bauers Vorzimmerdame gab sich diesbezüglich gegenüber Polizei und Presse genauso ahnungslos wie führende INTEC-Angestellte.
Entdeckt worden war die Tat erst in den frühen Morgenstunden, als der getötete Wachmann nicht auf einen Kontrollanruf seiner Zentrale antwortete, was automatisch einen Sicherheitsalarm auslöste. Weder die MP-Salven noch das Aufsprengen des Safes waren jemandem aufgefallen. Die Erklärung war einfach: In der Nacht zum Sonntag war der INTEC-Komplex mit Ausnahme des Wachmanns und der Teilnehmer der geheimen Sitzung leer gewesen.
Die Büroräume von INTEC nahmen den gesamten Oberteil des Gebäudes ein, den Balken auf dem T mit seinen fünf Stockwerken sowie die sieben Stockwerke darunter. Erst ab da begann der an fremde Unternehmen oder vermögende Privatpersonen vermietete Teil des Turms. Ein zu großer Abstand, um irgendetwas von dem mitzubekommen, was in dem T-Balken geschah. Hoch über den Dächern Berlins hatte sich die INTEC-Elite gut vom Rest der Welt isoliert, so gut, dass der Killer keine Vorsicht walten lassen musste. MP-Salven und Sprengstoff – Rica hatte recht, das war wie bei Al Capone!
All das hatte der Killer gewusst. Er konnte ungeniert mit seiner MP5K herumballern und hatte dann noch Zeit genug, um den Safe zu plündern. Er musste sich in der INTEC-Zentrale gut ausgekannt haben, entweder aus persönlicher Anschauung oder auf Grund hervorragender Informationen. Ich suchte einen Artikel, den ich neben vielen anderen überflogen hatte, weil ich mich an eine bestimmte Stelle erinnerte. Ja, dort stand der bedenkens werte Satz, den ich mit einem Rotstift unterstrich: »Das größte Rätsel bei dem mysteriösen Anschlag bildet die Frage, wie der Killer ungehindert in den streng abgeschirmten Überwachungsraum eindringen und den Wachmann töten konnte.«
»Und?«, fragte Rica, die mit zwei Tellern Spaghetti zum Tisch gekommen war. »Bist du dem Geheimnis auf der Spur?«
Ich schob die Unterlagen zur Seite und antwortete: »Für die offenbar problemlose Ausschaltung des Wachmanns gibt es nur eine logische Erklärung: Der Killer ist weder unbemerkt noch mit Gewalt in den Überwachungsraum eingedrungen. Im Gegenteil, der Wachmann hat ihn eingelassen. Ich habe gelesen, dass der Raum üblicherweise elektronisch verriegelt ist und nur durch einen täglich wechselnden Zahlencode geöffnet werden kann.«
»Dann hat der Wachmann seinen Mörder gekannt?«
»Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein.«
»Du meinst, der Killer gehört zum Wachdienst?«
»Nicht zwangsläufig.« Ich lehnte mich auf der Ledercouch zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ meinen Überlegungen freien Lauf. »Er kann auch ein Angestellter von INTEC gewesen sein. Gibt es ein Mitglied der Führungsspitze, das bei der Sitzung hätte anwesend sein müssen, es aber nicht war?«
»Ich weiß nicht. Das müsste ich recherchieren.«
»Das wäre hilfreich. Andererseits könnte der Mörder auch eine Art freier Mitarbeiter gewesen sein, zum Beispiel …«
»Ja?« fragte Rica und sah mich gespannt an.
»Ich.«
Es fiel mir nicht gerade leicht, mich selbst in den Kreis der Hauptverdächtigen einzureihen. Aber es brachte nichts, um den heißen Brei herumzureden. Wenn ich die Wahrheit herausfinden wollte, musste ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, auch die schlimmste.
Ich verdrängte die düsteren Gedanken und machte mich über die dampfenden Spaghetti her, lehnte aber den von Rica angeboteñen Chianti ab und zog ein Glas Mineralwasser vor. Die ganze Angelegenheit war schon verworren genug, da musste ich mir den Kopf nicht noch künstlich vernebeln.
Als Rica den Tisch abräumte, ging ich ins Schlafzimmer und holte mir vom Nachttisch die ›Bärliner‹-Nummer von Anfang August mit Ricas Artikel über Dr. Einar Kranz. Der SGB-Leiter war mir noch ein Buch mit sieben Siegeln. Irgendwie steckte er in der Geschichte drin, aber wie?
»Was ist mit diesem Bruder?«, fragte ich die aus der Küchenzeile zurückkehrende Rica.
»Arved Kranz?«
»Ja, du erwähnst ihn nur beiläufig: Zu seinem jüngeren Bruder Arved, dessen Eintritt in die SGB ihm den Vorwurf der Vetternwirtschaft eingetragen hat, möchte Dr. Kranz
Weitere Kostenlose Bücher