Wenn der Golem erwacht
gestiegen war, folgte ihm wie ein Schatten. Es war der Mann mit dem roten Wangenmal, Knaup.
Rica beugte sich vor, nahm die Fernbedienung vom Tisch und stellte das Videoband ab. Dabei verrutschte der schwarz-rot gemusterte Kimono, den sie sich übergestreift hatte, und erlaubte einen tiefen Einblick in ihr atemberaubendes Dekollete. Diesmal ließ ich mich von dem prachtvollen Anblick nur kurz ablenken. Zu sehr bewegte mich der Mitschnitt einer Nachrichtensendung, den Rica aus ihrem umfangreichen Archiv gezogen und in ihren Videorecorder geschoben hatte.
Wir saßen auf der großen Ledercouch in Ricas riesigem Wohnraum. Ich hatte mir Hose und T-Shirt angezogen, kein Hemd oder Pullover, und trotzdem war mir heiß. Das war die Spur, die ich gesucht hatte!
»Du bist so gesprächig wie Buster Keaton«, meinte Rica. »Was sagst du dazu?«
»Bingo! Ich frage mich allerdings, warum du mir das erst jetzt zeigst.«
»Weil ich nicht eher daran gedacht habe. Seit wir uns gestern über den Weg gelaufen sind, habe ich nicht gerade unter Langeweile gelitten.«
»Dieses Massaker im INTEC-Tower, wann genau ist das passiert?«
»In der Nacht zum neunzehnten August. Die Aufnahme eben stammt von diesem Tag.«
»Vor fünf Wochen also. Das fällt in den Zeitraum, für den mir über den vollkommenen Blackout in persönlicher Hinsicht hinaus jede Erinnerung fehlt. Was, zum Teufel, habe ich mit der Sache zu tun?« Ich versuchte angestrengt, meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, ohne Erfolg. Wütend schlug ich mit der rechten Faust aufs Polster.
Rica streichelte beruhigend meine Wange. »Bist du sicher, dass du in die Sache verwickelt bist?«
»Wie soll ich mir meine seltsamen Visionen von dem Gebäude sonst erklären? Und weshalb macht die SGB Jagd auf mich?« Ich dachte über Kranz' kurze Sätze in dem Interview nach. »Hat Dr. Kranz sich offiziell in die Ermittlungen eingeschaltet?«
»Nein, bislang wurde ein politischer Hintergrund nicht festgestellt. Der ganze Fall liegt noch ziemlich im Dunkeln.«
»Was genau hat sich ereignet?«
»Auch das weiß man nicht, es gibt keine Aufnahmen.«
»Was heißt das, keine Aufnahmen?«
»Die Räumlichkeiten der INTEC-Zentrale in den obersten Stockwerken des Turms werden videoüberwacht. Die Überwachungszentrale im Tower wurde in der Nacht überfallen, der zuständige Sicherheitsmann erdrosselt. Man hat keine Aufnahmen von dem Massaker gefunden. Der Täter hat die Überwachung abgestellt.«
»Dann muss er sich dort gut ausgekannt haben.«
»Du sagst es, weiser Fürst.« Rica sah mich nachdenklich an.
»Hältst du mich für den Mörder?«, entfuhr es mir.
»Robert Fuchs hat für INTEC gearbeitet. Vielleicht war der Empfang, bei dem ich dich dort gesehen habe, nicht das einzige Mal, dass du dort gewesen bist.«
»Falls das stimmt, was du andeutest, habe ich die Leute umgebracht, die mich bezahlen!«
»Das ist der schwache Punkt an meiner Überlegung«, gab Rica zu und stand auf.
Sie ging zur Bar und kehrte mit zwei Gläsern, gefüllt mit gelber Flüssigkeit, zurück.
»Einer deiner berühmten Cocktails?«, fragte ich skeptisch.
»Keine Sorge, es ist purer O-Saft. Meine Kehle ist schon ganz trocken vom vielen Reden.«
Ich trank zwei Schlucke von dem kalten Saft und sagte: »In dem Femsehbericht war von neun Toten die Rede. Du hast eben den Wachmann erwähnt. Wer sind die acht anderen Toten?«
»Die deutsche INTEC-Führungsspitze, wie von dem Sprecher eben gesagt. Sechs Männer und zwei Frauen aus dem INTEC-Topmanagement. Sie hatten sich zu einer geheimen Sitzung getroffen.«
»Was heißt geheim?«
»Es existieren keine Unterlagen, kein Gesprächsprotokoll, nichts. In diversen Terminkalendern fanden sich nur Vermerke wie ›Sitzung‹ oder ›Sondersitzung‹.«
»Heißt das, kein Mensch weiß, worüber bei dem Treffen gesprochen wurde?«
»So ist es. Zumindest ist nichts an die Öffentlichkeit gedrungen.«
»Das gibt's nicht!«, rief ich voller Überzeugung. »Irgendeinen Hinweis muss es geben.«
»Wenn ja, dann hält die Polizei oder INTEC selbst ihn zurück. Oder der Killer hat alle Hinweise mitgenommen, als er den Safe ausräumte.«
»Welchen Safe?«
»Der Wandsafe im Büro des INTEC-Chairmans Konrad Bauer, der sich unter den Ermordeten befindet, war aufgesprengt und ausgeräumt. Keiner konnte oder wollte sagen, welcher Art die entwendeten Unterlagen sind.«
»Je mehr Fragen du mir beantwortest, desto mysteriöser wird das Ganze«, klagte ich. »Womit macht der
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