Wenn der Golem erwacht
dass ich laut aufgeschrien hatte.
»Was hast du?«, fragte sie.
»Ich weiß es jetzt«, kam es kaum hörbar über meine Lippen, und ich tippte auf eins der Fotos. »Ich bin dort gewesen, bei den Toten!«
13
D ie Buchstaben flimmerten vor meinen Augen, drohten zu einem unlesbaren Brei zu zerfließen. Es lag nicht an ihnen, sondern an mir und meinen überanstrengten Augen. Seit vielen – zu vielen – Stunden starrte ich auf Ricas Computermonitor, während meine Finger über die Tastatur flogen oder die Maus bedienten, um mehr herauszufinden über dieses schreckliche Wort: Golem.
Je tiefer ich in die Materie eindrang, desto verwirrender fand ich alles. Kein konkreter Hinweis auf das, was der Wächter bei meiner Flucht aus Dr. Ambeus' Klinik gemeint haben könnte, nur mythologische und philosophische Abhandlungen. Derzeit steckte ich mitten in einem schwer verdaulichen Text, der den Golem mit dem ersten Menschen in Beziehung setzte, mit Adam. Demnach war Adam aus dem kosmischen Riesengolem zur menschlichen Gestalt reduziert worden, der Golem aber strebte die Rückkehr zu Adams ursprünglicher Gestalt an. Was sollte mir das sagen?
Enttäuscht und erschöpft wandte ich mich vom Monitor ab und schwang mich auf dem Drehstuhl herum. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie finster es geworden war. Die Wohnung lag im Halbdunkel, nur erhellt von dem flimmernden Bildschirm und vom Licht des abendlichen Berlins, das durch die großen Fenster hereinfiel. Die verschwimmenden Konturen verliehen dem Raum eine eigenartige Wirkung. Wie eine fremde Welt, die sich vor mir ausbreitete und die es zu erforschen galt. Dunkel und geheimnisvoll wie meine eigene Vergangenheit.
Während ich in das Zwielicht starrte, wurde mir kalt in meinem T-Shirt. Ich fühlte mich einsam und vermisste Rica, die ich seit dem Vormittag, als sie in die Redaktion gefahren war, nicht mehr gesehen hatte. Dies war erst mein zweiter Tag bei ihr, und doch fühlte ich mich ihr eng verbunden. Es war ein ähnliches Gefühl, wie ich es für Max gehegt hatte, und ich schämte mich dafür.
Ich kam mir wie ein Betrüger vor oder wie ein Vampir, der die Zuwendung anderer Menschen brauchte wie der klassische Filmvampir das Blut. Meine Zuneigung, für Max wie auch für Rica, konnte nicht echt sein, wenn sie so schnell wechselte. Vor mir selbst gestand ich ein, dass es eigentlich egal war, wer mir das Gefühl von Nähe und Wärme vermittelte. Wichtig war nur, dass es jemanden gab, der mir all die Menschen ersetzte, die ich zusammen mit meiner Erinnerung verloren hatte: Vater und Mutter, Verwandte und Freunde, eine Frau oder eine Geliebte vielleicht. So allein, wie ich war, war mir fast jeder Mensch willkommen.
Andererseits: War dieser Robert Fuchs, der ich zu sein glaubte, ein Mensch, der Wert auf zwischenmenschliche Kontakte legte? Das war eine Frage, die mich unablässig quälte. Falls es mir tatsächlich gelang, meine Erinnerung zurückzuerhalten, würde ich vielleicht mehr verlieren als gewinnen. Es schien mir, als wohnten in mir zwei verschiedene Persönlichkeiten, die um die Vorherrschaft stritten. Jekyll und Hyde. Erhellendes Licht konnte erst dann auf mich fallen, wenn es zu spät zur Umkehr war, wenn ich wieder im Besitz meiner Erinnerung und meines wahren Ichs war.
Was Rica betraf, versuchte ich mich mit der Überlegung zu beruhigen, dass jeder Mensch ein Betrüger und ein Vampir war, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Im tagtäglichen Spiel namens Leben musste man den anderen etwas vormachen, um seine Ziele zu erreichen und seine Selbstachtung nicht preiszugeben. Und man musste aus seinen Beziehungen zu anderen Menschen das heraussaugen, was man selbst zum Überleben brauchte, ob es nun einfach Zuneigung war, Anerkennung oder Bewunderung, Sex oder Geld.
Bei Rica waren es neben der Zuneigung und dem Sex ihre beruflichen Möglichkeiten. Als Redakteurin beim ›Bärliner‹ hatte sie Recherchemöglichkeiten, die mir verwehrt waren. Und einen weiteren unschätzbaren Vorteil konnte sie für sich verbuchen: Sie konnte sich frei bewegen, ohne von schießwütigen Fremden gejagt zu werden.
Auch wenn ich mich nach ihrer Nähe sehnte, nach dem Duft ihres Parfüms und nach ihrer warmen Haut, war ich ihr nicht böse, dass sie mich den ganzen Tag allein ließ. Sie tat es zwar in erster Linie für ihre Exklusiv-Story, aber damit tat sie es auch für mich. Rica wollte Kontakte knüpfen und Hintergründe recherchieren. Vielleicht war sie schon einen
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