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Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Titel: Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malte Pieper
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waren, sich Pizza in den Klassenraum liefern zu lassen. «Wollen Sie auch ein Stück?», fragte eine von ihnen unseren Klassenlehrer Herrn Löchel.
    Nein, Herr Löchel wollte kein Stück und nein, er würde das jetzt nicht ausnahmsweise einmal tolerieren und ja, er wisse, dass die Pizzen kalt werden, wenn man sie wegpacken würde, aber nein, das interessiere ihn nicht im Geringsten. Ergebnis einer sich dann entwickelnden Debatte: Pizza kalt, Herr Löchel sauer und der Unterricht fast schon wieder vorbei. Juchhu!
    Das Bestellen von Fastfood wurde übrigens wenige Tage nach diesem Vorfall per Durchsage des Schuldirektors offiziell untersagt. Schade.
    Sieht man aber mal von sämtlichen Störungen durch mitgebrachtes oder angeliefertes Futtermaterial ab, begann der Unterricht einigermaßen pünktlich. Zumindest für die zwanzig Prozent der Klasse, die die lange Anreise zum Klassenraum geschafft hatten. Die anderen achtzig Prozent erreichten den Unterricht mit Verspätungszeiten, die der Deutschen Bahn alle Ehre gemacht hätten. Oder sie kamen gar nicht. Auch das kennt man von der Bundesbahn.
    Hatte Herr Löchel also in einer Pizza-freien Stunde mal pünktlich angefangen, ging die Türe in einem relativ präzisen Takt von zwei Minuten immer wieder auf, ein Schüler betrat die Klasse, nuschelte ein kurzes «Schuldigung!» und setzte sich auf seinen Platz, nicht ohne vorher mit seinen Kumpels noch ein kurzes Gespräch zu führen und seine Tasche nach Essbarem zu durchsuchen.
    Anfangs hatte Herr Löchel noch versucht, den Zuspätkommern beizubringen, eine vollständige Entschuldigung mit Begründung ihrer Verspätung bei Betreten des Raumes selbsttätig zu formulieren. Nach wenigen Tagen wurden die Geschichten, die sich die Schüler ausdachten, aber so absurd, als hätten wir wieder in der ersten Klasse im Stuhlkreis gesessen und von unseren Wochenenderlebnissen erzählt. Mal wurde die Verspätung damit begründet, dass der Vater, der den Schüler mit dem Auto gebracht hatte, nur sehr langsam fahren konnte, weil die Straße mit Glatteis überzogen war, obwohl es draußen dreißig Grad waren. Mal wurden die Klassiker vom toten Hund bis zum aus dem Nest gefallenen Vogelbaby bemüht. Als Orhan behauptete, er hätte seine Tage gehabt, gab Herr Löchel es auf, nach den Verspätungsgründen zu fragen. Wie so viele Lehrer fügte er sich in sein Schicksal und unterrichtete stur weiter, ohne sich weiter über Verspätungen aufzuregen. Wahrscheinlich ist das ein angeborener Reflex bei Lehrern: Wenn sie merken, dass sie keine Chance haben, sich durchzusetzen und sich eine schlechte Angewohnheit an der Schule oder bei den Schülern erst einmal etabliert hat, schalten sie auf Autopilot und Energiesparmodus. Lehrer, die immer auf diese Art und Weise auf Schwierigkeiten reagierten, wurden von den meisten Schülern als schwach und nicht durchsetzungsfähig angesehen. Im Lehrerkollegium hingegen bewunderte man wahrscheinlich ihre stoische Ruhe, mit der sie Probleme angingen. Was das anging, war der Grad zwischen Ruhe und Verzweiflung recht schmal, denke ich.
    Doch eines Tages war Herr Löchels Chance zur Revanche gekommen: Eine Lehrerin hatte uns bereits die Klasse aufgeschlossen (welch Frevel! Wie konnte sie nur so etwas Unverantwortliches tun?), und die meisten Schüler saßen auf ihren Plätzen. Von Herrn Löchel jedoch keine Spur. Die Ersten begannen schon Vorkehrungen zu treffen, um die Tische aus dem Fenster zu werfen, und per SMS wurde bereits ein Fünftklässler für die geplante «Wir sind unbeaufsichtigt»-Aktion organisiert. Die Hoffnung, vielleicht frei zu haben, machte sich langsam breit, und genau in dem Augenblick, als die Ersten aufstehen wollten, um wieder zu gehen, betrat Herr Löchel das Zimmer: «Schuldigung! Ich musste meine Frau mit unserem Hund zum Tierarzt fahren. Das Vieh hat Zahnschmerzen.» «Eintrag ins Klassenbuch!», schrie Orhan vor Freude glucksend, und Herr Löchel nahm seinen Kugelschreiber und schrieb «Herr Löchel, 15  Min. zu spät. Wegen Zahnschmerzen Hund» in das Klassenbuch. Immerhin: Humor hatte er.
    Denselben behielt er ebenfalls bei, als er die Klasse auf Anwesenheit überprüfte, denn bei Dominik Kallert, Pascal Wirth und Aisha Yilmaz lächelte er nur müde in die Runde und fragte: «Weiß eigentlich noch jemand, wie die drei aussehen? Ich hab die seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Habt ihr noch Kontakt zu denen?» Stillschweigen. Natürlich hatten wir Kontakt zu den dreien. Sogar

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