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Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Titel: Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malte Pieper
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hörte einfach alles, obwohl sie doch am liebsten nichts hören wollte.
    Im Unterricht lief dies darauf hinaus, dass sie jeden, der es wagte, auch nur ein klein wenig zu laut zu atmen, sofort ins Klassenbuch eintrug oder der Klasse verwies. Sie hatte sich wahrscheinlich am Anfang ihrer Lehrerlaufbahn vorgenommen, niemals den für Lehrer im Laufe ihres Lebens typischen Hörsturz oder eine Reizung der Stimmbänder durch andauerndes zu lautes Sprechen zu erleiden. Diesen Vorsatz verteidigte sie bis aufs Letzte.
    Auch das zunehmende Alter schadete ihrem Gehör nicht. Im Gegenteil, sie schien mit der Zeit noch empfindlicher zu werden. Gruppenarbeit, selbständiges Lernen und andere freie Unterrichtsformen gab es bei ihr nicht. Sie waren ihr zu laut. Am liebsten ließ sie Texte abschreiben und auch das nur mit ganz weichen Bleistiften, damit kein Kratzgeräusch entstand. Die Tatsache, dass man eine Fremdsprache frei und laut sprechen muss, um sie zu erlernen, ignorierte sie. Also sprachen wir in ihrem Unterricht nur äußerst selten französisch – in der Schriftform waren wir allerdings bald tipptopp.
    Auch ihre Kollegen waren vor ihr nicht sicher. Vor allem nicht die jüngeren. Man konnte durchaus sagen, sie hasste alle jungen Lehrer, genauso wie sie ihre Schüler verabscheute. Denn diese jungen Lehrer machten Unterricht, in dem doch tatsächlich gesprochen wurde. In dem sogar mehrere Leute gleichzeitig sprechen durften, in Gruppen- oder in Partnerarbeit. Diese jungen Lehrer erdreisteten sich ja sogar, die Schüler auf dem Flur vor der Klassentüre von Frau Dreyer ihre Rollenspiele und Präsentationen üben zu lassen! Eine solche Provokation ließ Frau Dreyer natürlich nicht auf sich sitzen. Und sie hatte Unterstützung von allen Lehrern, die ebenfalls in ihrem Alter waren. So entwickelte sich in unserer Schule ein wahrer Generationenkonflikt: old teachers vs. young teachers.
    Als ein junger Lehrer einmal eine Klasse zur Auflockerung im Unterricht Gymnastikübungen machen ließ, bei denen man unter anderem mit den Füßen auf den Boden trampeln musste, war das Fass zum Überlaufen gebracht. Im Lehrerzimmer herrschte in der nächsten Pause Bürgerkrieg, dessen Augenzeuge ich zufällig wurde, weil ich von einem nichtsahnenden Lehrer dorthin geschickt wurde, um irgendwelche Arbeitsblätter abzuliefern.
    Die jüngeren Lehrer beklagten starre Strukturen und mangelnde Toleranz gegenüber neuen Lernmethoden auf Seiten der Alteingesessenen. Die wiederum fanden, dass die jüngeren Lehrer viel zu locker mit den Schülern umgingen und für geringe Leistungen schon viel zu gute Noten gaben. Es ging um Prinzipien, um unumstößliche Lebens- und Berufsgrundsätze. Da war keine Einigung in Sicht.
    Bis sich ein älterer Lehrer, der bisher kaum etwas gesagt, aber ein unglaublich präzises Gespür für einen peinlichen Auftritt zum falschen Zeitpunkt hatte, erhob und zu einer Rede ansetzte: «Liebe Kollegen», begann er und wurde sofort von einer jungen Lehrerin unterbrochen: «… und Kolleginnen, wenn ich bitten darf!»
    «Also liebe Kolleginnen und Kollegen», fuhr der Redner fort, «lassen Sie uns doch nicht untereinander streiten. Wir haben doch alle die gleichen Ziele. Mehr noch: Wir haben alle den gleichen Feind, die Schüler!» Einige Lehrer lachten, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Nur Frau Dreyer reagierte nicht. Sie saß schon die ganze Zeit etwas abseits in einer Ecke und hielt sich die Ohren zu.
    Der ältere Lehrer erfreute sich an seiner eigenen Rhetorik und merkte nicht, dass die anderen Lehrer die Schüler durchaus nicht als Feinde ansahen. Erst dann bemerkte er mich. Seine Miene erstarrte. Gleich würde er bestimmt rufen: «Da ist einer von den Würmern! Schnappt ihn euch, bevor er entkommt!» Aber er schaute mich nur verunsichert an. Offensichtlich war ihm die Peinlichkeit seines Auftritts erst jetzt bewusst geworden. Die Blicke der Lehrer wanderten erst zu ihm und dann zu mir. Am liebsten hätte ich ihm einen Vogel gezeigt und wäre wieder gegangen. Mir war es egal, worüber die Lehrer sich stritten, aber der Rest des Kollegiums erwartete anscheinend eine Reaktion von mir. Ich sagte: «Na, dann machen Sie doch zusammen Unterricht. Jeweils ein jüngerer und ein älterer Lehrer entwickeln gemeinsam eine Unterrichtsreihe und gut ist. Dann können beide Seiten was vom andern lernen.» Ich war mir sicher, dass mein Vorschlag so überzeugend und bestechend einfach umzusetzen war, dass man mir noch am selben Tag

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