Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause
hatte. Außerdem unerklärlich, wie er jemals die fachliche Eignung erlangen konnte, Chemie und Physik zu unterrichten. Zwei Fächer, die für gefährliche Fehler geradezu prädestiniert waren. Vielleicht war Herr Rudolf in jungen Jahren ja aber auch ein heller Kopf gewesen, und vielleicht hatte erst der tägliche Umgang mit den aus seiner Sicht absolut inkompetenten Schülern für seine nachlassende Umsicht gesorgt.
Viele seiner Missgeschicke geschahen tatsächlich aufgrund von Vergesslichkeit. Mal ließ er einen Bunsenbrenner unter einer chemischen Mixtur an und verwandelte den Klassenraum in eine stinkende Nebellandschaft, mal schmorte er Glühlampen und Kabel in seinen Experimenten durch, weil er versäumt hatte, die Stromstärke richtig einzustellen. Andere Patzer leistete er sich aber auch, weil er einfach nicht wusste, was er tat. Wenn sich zum Beispiel eine hochkonzentrierte Säure in einem Reagenzglas befindet, sollte man kein Wasser in großen Mengen hinzufügen, es sei denn, man möchte, dass das Reagenzglas überschäumt und einem die Finger verätzt. Das sei nur für die gesagt, die ebenfalls planen, Chemie- oder Physiklehrer zu werden. (Im Übrigen der einzige Merkspruch, der mir aus dem Chemieunterricht im Gedächtnis geblieben ist: «Erst das Wasser, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure!» Wendet man diesen Merkspruch nicht an und opfert so pro Experiment einen Finger, ist die Lehrerkarriere spätestens nach zehn Versuchen vorüber. Warum? Fragen Sie einen Biologielehrer und lassen Sie sich erklären, wie viele Finger Ihre Hände haben.)
Zu Herrn Rudolfs Lieblingsbeschäftigungen – neben Experimente-Versauen – gehörte es, den Schülern zu zeigen, wie verweichlicht sie waren. Er war im Krieg und in der Nachkriegszeit groß geworden und fühlte sich abgehärtet. Uns Schüler schätzte er als völlige Schwächlinge ein. Als ein Mädchen sich mal eine ungefährliche Chemikalie über die Hand gekippt hatte und wissen wollte, ob das schädlich sei, sagte er nur schroff: «Ach, du leeve Jott. Dat bisschen tut doch nichts. Wir haben früher janz andere Dinge usjehalten. Isch gehör zu der Generation, die noch mit Quecksilber jespielt hat.» Interessant. Es wäre spannend zu wissen, was man mit Quecksilber so alles Lustiges spielen kann.
Und wie kam man da ran? Wenn man heute irgendeine chemische Substanz bestellt, hat man doch ruck, zuck eine Terrorabwehreinheit im Haus. Ging man damals einfach so in einen Tante-Emma-Laden und sagte: «Also ich hätte gerne für zwanzig Pfennig von dem Quecksilber, für zehn Pfennig von dem Uran und für zehn Pfennig Gummibärchen»? (Für jüngere Leserinnen und Leser: Pfennig ist das, womit man früher bezahlt hat. Das müsst ihr aber nicht mehr wissen. Das war noch vorm Krieg …)
Spielte man mit dem Quecksilber dann so lustige Spielchen wie «Wer am meisten Quecksilber verschlucken kann, ohne sich zu übergeben» oder «Wer am meisten Ameisen mit einer Ladung Quecksilber verätzen kann, hat gewonnen»? Diese Spiele würden zumindest Herrn Rudolfs rustikale Art erklären.
Einen Referendar, der bei einem Experiment eine Flüssigkeit verschüttete, weil er sich erschreckt hatte, da ein Auto vor der Schule mit quietschenden Reifen gebremst hatte, herrschte er einmal an: «Mein Jott, Sie Waschlappen. Setzen Se sisch erst mal in ’nen Keller in Kölle als Fünfjähriger 1942 und lassen Se die Bomberstaffeln über sisch wechsausen. Da können Se sisch erschrecken!»
Ich hoffe doch, dass der Referendar zu diesem Selbstversuch niemals Gelegenheit haben wird.
Erzählte Herr Rudolf aber nicht irgendwelche autobiographischen Geschichten, sondern wandte sich seinem Beruf zu, dann war er es, der die Fehler machte. In einer der unteren Klassen wollte er beim Thema Wärmelehre – «Isch sach eusch, wie warm et is, wenn dir nebendran die Bude wechbrennt von die janze Bombardements!» – ein Thermometer eichen, d.h. auf einem Thermometer, auf dem noch keine Skala eingezeichnet war, dieselbige durch ein Experiment erstellen. Eventuell lag es an seinen traumatischen Erfahrungen mit extremen Temperaturen oder doch an seiner physikalischen Verpeiltheit, auf jeden Fall hatte er keine Ahnung, was er machte. Dabei war sein Ansatz ja gar nicht so schlecht. Er wollte das Thermometer erst in zuvor vorbereitetes Eiswasser tauchen, um einzeichnen zu können, wo ungefähr null Grad zu finden war. Dann wollte er ein anderes Gefäß mit Wasser so lange erhitzen, bis es
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