Wenn der Wind dich ruft
Dennoch war sie jetzt in diesem Moment hier, lief Hand in Hand mit einem dunklen Prinzen durch die Nacht, der ebenso gut Vernichtung bringen konnte wie Erlösung.
Stolpernd blieben sie am Rand des Daches stehen. Der Schnee verhüllte den Ruß und den Schmutz, sodass die Stadt sich wie die mit Zuckerguss überzogenen Zinnen einer riesigen Burg erstreckte. Das nächste Dach war zu weit entfernt, um es mit einem Sprung zu erreichen.
Die wütenden Rufe und das Poltern der Schritte wurden lauter. In Minutenschnelle würden Julians Verfolger sie eingeholt haben.
Am Rande des gähnenden Abgrundes zwischen den Häusern stand Portia da, gehalten von seinen Armen. Ein nervöses Kichern entrang sich ihrer Kehle. »Jahrelang hat Adrian Gerüchte über Vampire gehört, die über die Fähigkeit verfügen, sich in Fledermäuse zu verwandeln. Es ist wirklich ein Jammer, dass du nicht dazugehörst.«
Als ein hilfloser Schauer sie durchrann, zog Julian sie fester in seine Arme, schützte sie mit seinem Körper vor dem eisigen Wind. Sachte strich er ihr das Haar aus der Stirn, schaute ihr eindringlich in die Augen. »Sag ihnen, du habest mich gesucht, aber ich sei nicht mehr da gewesen. Dass ich aus London geflohen sei, um Wallingfords Zorn zu entgehen, und ihnen keine Schwierigkeiten mehr machen werde. Sag ihnen, dass du hergekommen seiest, um mich dazu zu bewegen, nach Hause zurückzukehren, weil du wusstest, wie sehr die Entfremdung zwischen Adrian und mir deine Schwester und den Rest der Familie betrübt. Damit wirst du Adrian nicht täuschen können, aber Wallingford wird dir glauben. Du kannst eine sehr überzeugende kleine Schauspielerin sein, wenn du willst.«
Portia öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn aber wieder, als sie begriff, dass es keinen Sinn hatte. »Aber wohin willst du gehen?«, fragte sie stattdessen. »Wie ...?« Sie brach ab, deutete auf den sternenübersäten Nachthimmel.
Einer seiner Mundwinkel zuckte aufwärts, verzog sich zu einem reuigen Lächeln. »Ehe Adrian ihn vernichtet hat, hat Duvalier mir einen guten Rat gegeben. Er rief, ich sei ein Narr, wenn ich meine dunklen Gaben nicht annähme und nutzte.«
Als wollte er mit ihr die dunkelste und kostbarste dieser Gaben teilen, neigte er den Kopf zu ihr. Da, während der Schnee im Licht der Sterne um sie herum glitzerte und funkelte und während das Verhängnis in Form der Verfolger immer näher kam, küsste er sie.
Es war kein kunstvoller Kuss der Verführung, darauf abgestimmt, ihr höchste Lust zu bereiten. Nein, diesmal nahm er, was er wollte, wonach er sich sehnte. Seine Zunge glitt durch ihren Mund, forderte ihn für sich, forderte sie für sich mit einer Leidenschaft und einer Macht, die ihr die Seele aus dem Leib zu reißen drohte. Selbst wenn sie noch den Pflock in der einen Hand hätte und die Pistole in der anderen, sie hätte sich weder gegen solch verzehrende Leidenschaft verteidigen können — noch hätte sie das gewollt.
Julian stöhnte, und sie klammerte sich an seine Weste, beantwortete den Sirenenruf mit einem kehligen Laut, den sie nur mit Mühe als ihren eigenen erkannte. Ihr Stöhnen wurde zu einem hilflosen Protestlaut, als er sich widerstrebend von ihr löste und sie von sich schob.
Ihre Augen öffneten sich gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er sich umdrehte und kopfüber in den Abgrund stürzte. Ehe der Schrei, der ihr zuerst in der Kehle stecken blieb, aus ihrem Mund kommen konnte, hatte er sich in Luft aufgelöst. Ein dunkler Schatten flog lautlos über das Dach, schwang sich in den Nachthimmel. Portia stand mit offenem Mund da, beobachtete, wie er sich in einer anmutigen Bahn kreisförmig nach oben schraubte, ehe er sich zu dem sichelförmigen Halbmond entfernte.
Ihr Erschrecken abschüttelnd, legte sie die Hände trichterförmig um ihren Mund und rief: »Friss niemanden!«
Vermutlich war es nicht mehr als eine akustische Täuschung des Windes, aber sie hätte schwören können, sie hörte Julians vollen Bariton lachend antworten: »Nörgele nicht! «
Die Tür hinter ihr wurde krachend aufgestoßen, und es blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als sich umzudrehen und sich dem Fackel schwingenden Mob und der finster gerunzelten Stirn ihres Schwagers zu stellen.
5
»Was muss ich tun, damit du vor ihm sicher bist? Dich in einem Kloster wegsperren? Wenigstens wäre er nicht in der Lage, geweihten Boden zu betreten.« Adrian versuchte offenbar, mit seinem unermüdlichen Auf- und Abgehen frische kahle
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