Wenn der Wind dich ruft
Deswegen bin ich heute hier. Sie sollte erfahren, dass ich London verlasse. Ich wusste, sie würde mir folgen, ob ich es will oder nicht.«
Julian verspürte unerwartete Trauer, als vor seinen Augen alles, was hoffnungsvoller Frühling in Portias Blick gewesen war, zu Winter gefror. Da er sich nie absichtlich um ihre Zuneigung bemüht hatte, hatte er keine Ahnung gehabt, dass er sie so schmerzlich vermissen würde, nachdem sie verschwunden war. Zum ersten Mal in sehr langer Zeit fühlte er sich als die Bestie, zu der er geworden war.
»Du hast die ganze Zeit angenommen, dass sie die Mörderin war, richtig? Trotzdem hast du mich in dem Glauben gelassen, dass du es gewesen sein könntest. Warum solltest du so etwas tun? Um sie zu beschützen?«
»Um dich zu schützen. Wenn du das Schlimmste von mir glaubtest, dachte ich, es fiele dir leichter, dich von mir zu lösen.«
Eine Reihe von Gefühlen spiegelte sich in Portias ausdrucksvollem Gesicht, ehe sie schließlich nickte. »Du hattest Recht. Weil nämlich, soweit es mich betrifft, du und deine seelenraubende Mätresse beide geradewegs zum Teufel gehen könnt.«
Valentine schlug die Hände wie ein Kind am Weihnachtsmorgen zusammen. »Sie gibt uns ihren Segen, Liebling! Ist das nicht niedlich?«
Angewidert den Kopf schüttelnd, kehrte ihnen Portia den Rücken und entfernte sich, so würdevoll, wie es mit einem abgeknickten Absatz möglich war.
Sie ließ ihn stehen. Einfach so. Eine Welle ungerechtfertigter Wut verspürend, bewegte sich Julian so schnell, dass sie ein erschrecktes Zusammenzucken nicht ganz verhindern konnte, als er direkt vor ihr auftauchte. »Ich fürchte, ich kann dich nicht einfach so gehen lassen.«
»Das hast du doch schon getan«, versetzte sie, und unvergossene Tränen schimmerten in ihren Augen. »Daher schlage ich vor, du nimmst deine kostbare Valentine und fliehst aus London, bevor Adrian einen Pfeil durch ihr verkümmertes kleines Herz schießt und irgendeine andere blutrünstige Schöne deine armselige Seele erbt. Ich hoffe nur, ihr beide werdet bis an euer seliges Ende glücklich sein. Aber nein — dafür ist es ja wohl zu spät, oder?«
Sie wich ihm geschickt aus, aber ehe sie entkommen konnte, hatte er ihr schon wieder den Weg verstellt. Mit wachsender Verzweiflung griff er nach ihrem Arm. »Bitte, Süße, du musst mich anhören.«
Ehe er reagieren konnte, hatte sie den Saum ihres Rockes hochgeschlagen, wobei sie ihm einen köstlichen, wenn auch kurzen Blick auf ihre spitzenbesetzten Unterröcke und Seidenstrümpfe gewährte, und eine Pistole aus ihrem Strumpfband gezogen, die sie auf sein Herz richtete. Sie spannte den Hahn mit einem entschlossenen Zucken ihres Daumens. »Nenn mich nie wieder so!«
Er verdrehte die Augen. »Um Himmels willen, Portia, nimm das Ding weg! Du würdest mich sowieso nicht erschießen.«
»Ach nein?« Mit einem süßlichen Lächeln betätigte sie den Abzug.
Bei dem ohrenbetäubenden Knall wankte Julian rückwärts. Eine Schmerzwelle breitete sich von seinem Brustkorb aus, sodass er die Zähne zusammenbeißen musste. Ungläubig blickte er an sich herab. Die Wunde heilte bereits wieder, ihre zackigen Ränder falteten sich ordentlich zusammen, bis schließlich nur noch das schwarze Einschussloch in seiner teuren Seidenweste zu sehen war.
Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, schaute er sie an. »Weißt du, es ist eine Sache, damit zu drohen, einen Holzpflock durch das Herz eines Mannes zu treiben, aber seine kostbare Weste völlig unnötig zu ruinieren ist schlicht unhöflich!«
»Du kannst mir gerne die Rechnung deines Schneiders schicken.« Sie blies den Qualm der noch rauchenden Pistole weg, ehe sie sie wieder in ihr Strumpfband steckte. Dann zeigte sie auf Valentine, die den Austausch mit kaum verhohlenem Vergnügen verfolgt hatte. »Oder vielleicht kannst du die Herzogin der Finsternis da drüben dazu bringen, das Loch mit ihren Zähnen zu stopfen.«
Mit immer noch schmerzender Brust und bis aufs Äußerste gereizt, knurrte Julian wütend, wobei seine immer noch spitzen, langen Zähne zu sehen waren. Doch dieses Mal wich sie keinen Zoll zurück. Ihre blauen Augen funkelten ihn an, als forderte sie ihn heraus, das Schlimmste zu tun.
»Geh von ihr weg, Julian!«
Beide fuhren beim Dröhnen von Adrians Stimme herum. Er kam durch die neblige Nacht zu ihnen, sein Blick war fest auf Julian gerichtet, und in seinen kräftigen Händen hielt er eine große Armbrust, der tödliche Pfeil
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