Wenn der Wind dich ruft
zu wecken, sich einen Pflock durchs Herz zu stoßen. Oder ihm.«
Angewidert den Kopf schüttelnd, schob sich Julian durch Byrons gebannt lauschendes Publikum. Portia stand da und starrte den berühmten Dichter mit offenem Mund an, bis Julian an der Kette zog.
Sie beeilte sich, ihn einzuholen, und erklärte: »Ich muss gestehen, dass dieses Treffen ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe mehr an ein bacchantisches Gelage gedacht, voller Verderbtheit und mit Jungfrauen und Kätzchen, die auf einem blutverschmierten Altar geopfert werden. «
Er fuhr zu ihr herum und erwiderte leise, aber dennoch heftig: »Du brauchst nicht so enttäuscht zu klingen. Vampire haben schließlich kaum ein Monopol auf das Böse, weißt du? Wenn du einmal Gräueltaten sehen willst, die wirklich ewige Verdammnis verdienen, solltest du der Armee Seiner Majestät beitreten oder einen der Höllenfeuer-Clubs in Pall Mall besuchen, wo schreiende Jungfrauen regelmäßig der Wollust skrupelloser Adeliger mit zu viel Geld und zu wenig Gnade geopfert werden. Vampire zerstören und töten nur, um zu überleben. Sterbliche tun es lediglich des Vergnügens wegen.«
Sie wich vorsichtig einen Schritt zurück, von seiner Leidenschaft überrascht, ja bestürzt.
»Ein Zank unter Liebenden?« Die melodische Stimme umfloss sie wie flüssige Seide.
Ein Vampir war aus dem Nichts neben ihnen aufgetaucht. Er war im Stil von vor etwa hundert Jahren gekleidet: Kniehosen und ein dunkelblauer Rock à la française mit goldener Verschnürung auf der Brust und einem Glockenschoß. Extravagant üppige Spitze quoll aus Kragen und Ärmeln des eleganten Kleidungsstückes. Obwohl er keine gepuderte Perücke trug, war sein glattes, goldblondes Haar im Nacken mit einem Samtband zusammengebunden. Seine engelsgleichen Züge und die hellblauen Augen hätten sich auch gut im Deckengemälde einer florentinischen Kathedrale ausgemacht.
Julian machte eine tiefe Verbeugung. »Meine Liebe, das ist Raphael — unser Gastgeber heute Abend. Er war so nett, mir Gastfreundschaft zu gewähren, nachdem ich frisch vom Kontinent in England eingetroffen war.«
»Reizend haben Sie es hier«, murmelte sie unbeholfen, versuchte Raphael nicht direkt anzustarren oder die Seidentapeten, die sich hinter ihm in Streifen von den Wänden lösten, die Kaskaden aus geschmolzenem Wachs um die Kerzenständer, die Spinnweben an den Kronleuchtern aus Bleikristall und die welken Blätter auf dem Boden — von den Spatzen gar nicht zu reden, die zwischen den Deckenbalken hin- und herflogen, oder den zerbrochenen Spiegeln zwischen den Fenstern.
»Jetzt sogar noch reizender, da Ihre Gegenwart es ziert, Mylady.« Raphael nahm ihre Hand und hob sie an seinen Mund. Statt einen Kuss auf ihre Fingerknöchel zu hauchen, streiften seine feuchten Lippen die empfindliche Haut auf der Innenseite ihres Handgelenkes. Aus dem Augenwinkel sah Portia, wie sich Julians Mund missbilligend verzog.
»0 danke«, antwortete sie knapp, schenkte ihm ein dünnlippiges Lächeln. Als sie spürte, wie einer seiner scharfen Zähne ihre Haut ritzte, riss sie ihre Hand zurück vor Angst, er könnte ihren rasenden Puls spüren.
Er schaute sie an, und seine sinnlichen Lippen verzogen sich besorgt. »Sie sehen ein wenig blass aus, meine Liebe. Darf ich Ihnen jemanden zu essen anbieten?«
Sie schluckte, aber ehe sie eine Antwort hervorpressen konnte, legte ihr Julian einen Arm um die Mitte. »Das wird nicht nötig sein. Wir haben gegessen, ehe wir herkamen. «
Raphael starrte sie immer noch an, seine leicht zusammengekniffenen Augen blickten etwas weniger wohlwollend als eben noch. »Ein schönes Gesicht vergesse ich nie, wissen Sie, und ich könnte beinahe schwören, Ihres habe ich schon einmal zuvor gesehen.«
Julian schaute sich verstohlen um, als wolle er sichergehen, dass niemand ihre Unterhaltung belauschte, dann beugte er sich vor und flüsterte Raphael etwas ins Ohr.
»Nein!«, rief der Vampir, und seine Augen weiteten sich geschockt.
»Doch!«, sagte Julian gerade laut genug, dass die Vampire um den mit Filz überzogenen Kartentisch in der Ecke es noch hören konnten. »Und du kannst dir vielleicht vorstellen, wie sehr es meinen Bruder in Rage gebracht hat, als sie mir aus freiem Willen ihren Körper und ihre Seele angeboten hat.«
Raphael klatschte in seine gepflegt manikürten Hände und hätte sie sich beinahe auch noch schadenfroh gerieben. »Direkt unter der Nase des Vampirjägers weggeschnappt, was?
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