Wenn die Dunkelheit kommt
Leid ist. Wenn das geschehen ist, wenn er isoliert, einsam und voller Angst ist, wenn er eine Weile gelitten hat, wenn er von schwärzester Verzweiflung erfüllt ist, dann werde ich mich endlich auch seiner entledigen, und zwar auf langsame und sehr qualvolle Weise. Dann werde ich fortgehen, zurück auf die Inseln, und Sie werden nie wieder von mir belästigt werden. Ich bin nur ein Werkzeug der Gerechtigkeit, Lieutenant Dawson.«
»Verlangt die Gerechtigkeit wirklich, Carramazzas Enkelkinder zu ermorden?«
»Ja.«
»Unschuldige kleine Kinder?«
»Sie sind nicht unschuldig. Sie haben sein Blut, seine Gene. Das macht sie ebenso schuldig wie ihn.« Carver Hampton hatte recht: Lavelle war wahnsinnig. »Nun«, fuhr Lavelle fort, »ich sehe ein, daß Sie Schwie rigkeiten mit Ihren Vorgesetzten bekommen, wenn Sie nicht wenigstens für ein paar von diesen Morden jemanden vor Gericht bringen. Die gesamte Mordkommission wird zum Prügelknaben für die Presse werden, wenn nichts geschieht. Das verstehe ich sehr gut. Wenn Sie wollen, werde ich es also so einrichten, daß durch viele verschiedene Anhaltspunkte Mitglieder einer der anderen Mafia-Familien der Stadt belastet werden. Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen auf diese Weise aus der Klemme zu helfen.«
Es waren nicht nur die Umstände, unter denen dieses Gespräch stattfand -die traumartige Beschaffenheit der Straße rings um das Münztelefon, das Gefühl zu schweben, der Fieberschleier -, die alles so unwirklich erscheinen ließen; das Gespräch selbst war so bizarr, daß es niemand hätte glauben können, ganz gleich, unter welchen Umständen es geführt wurde.
Jack sagte: »Glauben Sie wirklich, daß ich so ein Angebot ernst nehmen könnte?«
»Die Beweise, die ich fingiere, werden hieb- und stichfest sein. Sie werden jeder gerichtlichen Überprüfung standhalten. Sie brauchen nicht zu befürchten, den Fall zu verlieren.«
»Das meine ich nicht«, sagte Jack. »Glauben Sie wirklich, daß ich mit Ihnen zusammenarbeiten würde, um unschuldigen Menschen etwas anzuhängen?«
»Sie wären nicht unschuldig. Kaum. Ich rede davon, anderen Mördern, Dieben und Zuhältern etwas anzuhängen.«
»Aber diese Verbrechen hätten sie nicht begangen.«
»Reine Formsache.«
»Nicht für mich.«
Lavelle schwieg einen Augenblick. Dann: »Sie sind ein interessanter Mann, Lieutenant. Naiv. Dumm. Aber trotzdem interessant.«
»Gennaro Carramazza erzählte uns, Ihr Motiv sei Rache.«
»Ja.«
»Wofür?«
»Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
»Nein. Was ist das für eine Geschichte?«
Schweigen.
Jack wartete, hätte die Frage fast noch einmal gestellt.
Dann sprach Lavelle endlich, und in seiner Stimme war eine neue Schärfe, sie klang jetzt hart und grausam. »Ich hatte einen jüngeren Bruder. Er hieß Gregory. Eigentlich war er mein Halbbruder. Sein Familienname war Pontrain. Er hing nicht den alten Hexen-und Zauberkünsten an. Er mied sie. Er wollte nichts mit den alten Religionen Afrikas zu tun haben. Er hatte eine sehr moderne Einstellung, die Vernünftigkeit des Maschinenzeitalters. Mich hielt er für einen harmlosen Exzentriker. Aber obwohl er mich nicht verstand, liebte ich ihn, und er liebte mich. Wir waren Brüder. Brüder. Ich hätte alles für ihn getan.«
»Gregory Pontrain...«, sagte Jack nachdenklich. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Gregory kam vor Jahren als legaler Einwanderer hierher. Er strengte sich sehr an, arbeitete sich durchs College, bekam ein Stipendium. Er hatte immer schriftstellerisches Talent gehabt, schon als Junge, und er glaubte zu wissen, was er damit anfangen sollte. Er machte hier, an der Columbia University, sein journalistisches Diplom. Er war Klassenbester. Arbeitete für die New York Times. Ungefähr ein Jahr lang schrieb er nicht einmal selbst, sondern prüfte nur die Recherchen in den Berichten anderer Reporter nach. Allmählich bekam er auch selber ein paar Aufträge. Kleine Sachen. Unbedeutend. Was man >aus dem Leben gegriffen< nennen würde. Und dann...«
»Gregory Pontrain«, sagte Jack. »Natürlich. Der Polizeireporter.«
»Mit der Zeit wurden meinem Bruder ein paar Krimmalberichte übertragen. Raubüberfälle. Rauschgiftrazzien. Seine Reportagen waren gut. Ja, er fing an, Geschichten nachzugehen, mit denen man ihn gar nicht beauftragt hatte, größere Sachen, die er ganz allein ausgegraben hatte. Und schließlich wurde er der Experte der Times für den Rauschgifthandel in der Stadt. Niemand wußte mehr über
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