Wenn die Dunkelheit kommt
Eingangstüren, die Stufen hinunter, auf den Gehsteig und in das Schneetreiben hinaus, das die graue Stadtlandschaft New Yorks in ein strahlendes Fantasieland verwandelte.
Mrs. Shepherd, eine der Lehrerinnen, hatte in dieser Woche die Aufsicht bei Schulschluß. Sie ging auf dem Gehsteig auf und ab, behielt alle im Auge, achtete darauf, daß keines der kleineren Kinder versuchte, alleine nach Hause zu gehen, und sorgte dafür, daß keines von ihnen zu einem Fremden in den Wagen stieg. Heute hatte sie noch die zusätzliche Aufgabe, wilde Schneeballschlachten zu verhindern.
Man hatte Penny und Davey gesagt, daß ihre Tante Faye sie statt ihres Vaters abholen würde, aber sie sahen sie nirgends, als sie die Stufen herunterkamen, also gingen sie zur Seite, um nicht im Weg zu sein. Sie stellten sich an das grüne Holztor vor dem Durchgang zwischen der Wellton-Schule und dem Stadthaus nebenan. Das Tor schloß nicht bündig mit den Vordermauern der beiden Häuser ab, sondern war acht oder zehn Zoll nach hinten versetzt. Um dem scharfen, kalten Wind zu entgehen, der sie grausam in die Wangen biß und sogar durch ihre dikken Mäntel drang, drückten sie sich mit dem Rücken gegen das Tor und kauerten sich in die flache Nische davor.
Davey fragte: »Warum kommt Dad nicht?«
»Er mußte wohl arbeiten.«
»Warum?«
»Wahrscheinlich ein wichtiger Fall.«
»Was für ein Fall?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gefährlich ist es aber nicht, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Woher weißt du das so sicher?«
»Ich weiß es eben«, sagte sie, obwohl sie sich absolut nicht sicher war.
»Andauernd werden Polizisten erschossen.«
»So oft auch wieder nicht.«
»Was wird aus uns, wenn Dad erschossen wird?«
Unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter war Davey mit diesem Schicksalsschlag recht gut fertig geworden. Besser, als alle erwartet hatten. Sogar besser als Penny. Er hatte keinen Psychiater gebraucht. Sicher, er hatte geweint; er hatte ein paar Tage lang sehr viel geweint, aber dann hatte er sich wieder gefangen. In letzter Zeit je doch, eineinhalb Jahre nach der Beerdigung, entwickelte er eine unnatürliche Angst davor, auch seinen Vater zu verlieren. Soweit Penny wußte, war sie die einzige, die bemerkte, wie besessen er von dem Gedanken an die realen oder eingebildeten -Gefahren des Berufs seines Vaters war. Sie hatte den Zustand ihres Bruders übrigens weder ihrem Vater noch sonst jemand gegenüber erwähnt, weil sie glaubte, sie könnte ihn alleine wieder hinkriegen. Schließlich war sie seine große Schwester; sie war verantwortlich für ihn; sie hatte gewisse Verpflichtungen ihm gegenüber. In den Monaten unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter hatte Penny Davey im Stic h gelassen; sie empfand es wenigstens so. Damals war sie zusammengebrochen. Sie war nicht dagewesen, als er sie am dringendsten gebraucht hatte. Jetzt wollte sie das wiedergutmachen.
»Was machen wir, wenn Dad erschossen wird?« fragte er wieder.
»Er wird nicht erschossen.«
»Aber wenn er nun doch erschossen wird. Was machen wir dann?«
»Wir kommen schon klar.«
»Müssen wir dann in ein Waisenhaus?«
»Nein, du Dummerchen.«
»Wo gehen wir dann hin? Hm? Penny, wo würden wir hingehen?«
»Wahrscheinlich würden wir zu Tante Faye und Onkel Keith ziehen.«
»Au weia.«
»Die sind ganz in Ordnung.«
»Ich würde lieber in den Kanälen leben.«
»Das ist doch kindisch.«
»Es wäre prima, in den Kanälen zu leben.
»Das wäre es ganz bestimmt nicht.«
»Tante Faye macht mich jedenfalls verrückt.«
»Sie meint es doch gut, Davey.«
»Sie... schnattert.«
»Vögel schnattern, aber Menschen doch nicht.«
»Sie schnattert wie ein Vogel.«
Er hatte ja recht. Aber im reifen Alter von fast zwölf Jahren spürte Penny seit kurzem die ersten Regungen einer gewissen Verbundenheit mit den Erwachsenen. Sie fühlte sich bei weitem nicht mehr so wohl dabei, wenn sie sich über sie lustig machte, wie noch vor ein paar Monaten.
Davey fuhr fort: »Und ständig nörgelt sie an Dad herum, ob wir auch anständig ernährt werden.«
»Sie macht sich eben Sorgen um uns.«
»Glaubt sie, Dad würde uns verhungern lassen?«
»Natürlich nicht.«
»Warum hackt sie dann immer wieder darauf herum?«
»Sie ist einfach... Tante Faye.«
»Junge, das kannst du noch mal sagen!«
Eine besonders heftige Bö fegte durch die Straße und fand auch den Weg in die Nische vor dem grünen Tor. Penny und Davey schauderten.
Er fragte: »Dad hat doch eine gute Pistole,
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