Wenn die Dunkelheit kommt
die erwünschte schädliche Wirkung zeigte, brauchte er ein Abbild des in Aussicht genommenen Opfers. Traditionellerweise stellte der Priester eine Puppe her, er nähte sie aus Baumwollfetzen zusammen, füllte sie mit Sägemehl oder Sand und verlieh dann, so gut er konnte, dem Gesicht dieser PuppeÄhnlichkeit mit dem Gesicht des Opfers; wenn das geschehen war, diente die Puppe bei der Ausführung des Rituals als Ersatz für die wirkliche Person.
Aber das war mühsames Unterfangen, das noch dadurch erschwert wurde, daß es einem durchschnittlichen Bocor - da er ja nicht das Tale nt und die Geschicklichkeit eines Künstlers hatte -praktisch unmöglichwar, dem Baumwollgesicht genügend Ähnlichkeit mit irgendeinem wirklichen Antlitz zu verleihen. Deshalb war es notwendig, die Puppe mit einer Haarlocke, einem Nagelschnipsel oder einem Blutstropfen des Opfers auszustatten. Es war nicht leicht, an eines dieser Dinge heranzukommen. Man konnte sich nicht einfach Woche für Woche im Friseur-oder Kosmetiksalon des Opfers herumtreiben und darauf warten, daß er oder sie kam und sich die Haare schneiden ließ. Man konnte das Opfer auch nicht gut bitten, einem ein paar Schnipsel aufzuheben, wenn es sich das nächste Mal die Nägel schnitt. Und so ziemlich die einzige Möglichkeit, eine Probe vom Blut des künftigen Opfers zu bekommen, war, es zu überfallen; dabei riskierte man aber, von der Polizei geschnappt zu werden, und genau das wollte man doch vermeiden, indem man es mit Magie anstatt mit Fäusten, einem Messer oder einer Schußwaffe angriff.
Alle diese Schwierigkeiten konnte man umgehen, wenn man anstelle einer Puppe eine gute Fotografie verwendete.
Lavelle kniete sich jetzt auf den Erdboden des Schuppens neben die Grube und bohrte mit einer Kugelschreibermine Löcher in den oberen Rand der beiden Hochglanzaufnahmen. Dann zog er durch beide Fotos eine dünne Schnur. Auf beiden Seiten der Grube waren, einander gegenüber, nahe am Rand zwei Holzpflöcke in die Erde getrieben. Lavelle band ein Ende der Schnur an einen der Pflöcke, spannte die Schnur über die Grube und befestigte das andere Ende am zweiten Pflock. Die Bilder der Dawson-Kinder hingen über dem Zentrum des Lochs und wurden in das unirdische, orangefarbene Leuchten getaucht, das aus dem geheimnisvollen, ständig sich verändernden Grund aufstieg.
Bald würde er die Kinder töten müssen. Er ließ Jack Dawson noch ein paar Stunden Zeit, eine letzte Gelegenheit nachzugeben, aber er war ziemlich sicher, daß Dawson festbleiben würde.
Es machte ihm nichts aus, Kinder zu töten. Er freute sich darauf. Der Mord an den ganz Jungen bereitete ihm besonderen Genuß.
Er leckte sich die Lippen.
Das Geräusch, das aus der Grube aufstieg - das ferne Wispern, das aus Zehntausenden von zischenden, flüsternden Stimmen zu bestehen schien-, wurde etwas lauter, als die Fotos da hingen, wo Lavelle sie haben wollte. Und in dem Flüstern war auch ein neuer, beunruhigender Ton zu hören: nicht nur Zorn; nicht nur eine vage Drohung; es war etwas schwer Faßbares, das irgendwie von ungeheuerlichen Gelüsten kündete, von einer gräßlichen Gefräßigkeit, von Blut und Perversion, der Klang eines dunklen, unersättlichen Hungers.
Lavelle legte seine Kleider ab.
Er streichelte seine Genitalien und sprach dabei ein kurzes Gebet. Er war bereit. Links von der Schuppentür standen fünf große Kupfer schalen. Jede enthielt eine andere Substanz: weißes Mehl, Maismehl, rotes Ziegelpulver, pulverisierte Holzkohle und pulverisierte Sumachwurzel. Lavelle nahm eine Handvoll des roten Ziegelpulvers und begann, indem er es in abgemessenem Strom aus seiner hohlen Hand rieseln ließ, auf den Fußboden am nörlichen Rand der Grube ein kompliziertes Muster zu zeichnen.
Dieses Muster hieß Veve, und es verkörperte die Gestalt und die Macht einer astralen Kraft. Es gab Hunderte von Veves, die ein Houngon oder ein Bocor kennen mußte. Durch das Zeichnen mehrerer passender Veves vor dem Beginn eines Rituals lenkte der Priester die Aufmerksamkeit der Götter auf den Oumphor, den Tempel, in dem die Zeremonien abgehalten werden sollten. Das Veve mußte freihändig gezeichnet werden, ohne Zuhilfenahme einer Schablone und ohne sich an einer vorher in die Erde gekratzten Skizze zu orientieren; trotzdem mußte es, wenn auch aus freier Hand gezeichnet, symmetrisch und richtig proportioniert sein, wenn es irgendeine Wirkung haben sollte. Die Schaffung der Veves erforderte viel Übung, eine feinfühlige
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