WENN DIE LUST ENTLAMMT
Mallory Morgan perfekt, dachte Gabriel finster, als er auf dem lädierten Bürgersteig vor dem baufälligen Mietshaus stand, in dem Mallory wohnte. Er stellte den Mantelkragen hoch, um sich vor der kühlen Märzbrise zu schützen, sah sich auf der mit Abfällen übersäten Straße um und ging dann zu seinem auf der anderen Seite geparkten Jeep hinüber.
Er überprüfte den Wagen kurz und gab dem kräftigen kleinen Latino, der sich anerboten hatte, auf ihn aufzupassen, einen Zwanzigdollarschein. „Danke, mi hijo .“
Da ihre Abmachung eigentlich über zehn Dollar im Voraus gewesen war und weitere zehn, wenn der Junge seinen Auftrag richtig erledigte, war die Begeisterung des Kleinen nur allzu verständlich. „ Muchas gracias, Mister!“
Gabriel nickte. „Du hast es dir verdient.“
„ Sí. Wenn Sie mal wieder in die Lattimer Street kommen, fragen Sie nach Tonio, okay? Ich kümmere mich um Sie.“
„Ich werde daran denken.“
„ Bueno !“ Der Junge schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und lief davon. Er sauste an drei tätowierten Schlägertypen vorbei, die vor einer mit Brettern vernagelten Ladenfassade standen und rauchten, und winkte einer erschöpftaussehenden jungen Frau zu, die gerade die Treppe herunterstapfte. „Mama, Mama! Rate mal, was ich habe!“, rief er, während er in der zunehmenden Dämmerung auf sie zuraste.
Offenbar hatte Gabriel gerade jemanden glücklich gemacht.
Leider war es nicht der Jemand, den er sich gewünscht hätte. Aber was hatte er auch anderes erwartet? Obwohl sonst allgemein für seine Klugheit und seine Fähigkeit, über den Tellerrand hinauszusehen, bekannt, hatte er vorhin die Feinfühligkeit eines Panzers bewiesen. Er hatte Mallorys Privatsphäre verletzt, gebieterisch Antworten verlangt, sie herumkommandiert und drangsaliert, statt ihr gut zuzureden. Und als wäre das nicht schlimm genug, hatte er sogar eine mehr als machohafte Andeutung gemacht, was sexuell zwischen ihnen passieren könnte.
Das Einzige, was den heutigen Tag vor einer vollkommenen Pleite rettete, war der sehr gewinnbringende Vertrag mit der „Lux Pacifica“-Hotelkette, den Gabriel beim Mittagessen geschlossen hatte und der seiner Firma den Auftrag erteilte, für die Sicherheit der leitenden Angestellten der Hotelkette in Übersee zu sorgen.
Abgesehen davon allerdings … Mit einem ungeduldigen Kopfschütteln legte er den Rückwärtsgang ein und machte sich auf zur Speicherstadt, wo das Bürogebäude von Steele Security stand. Es ging langsam voran, weil der Verkehr wie immer an einem Freitagabend sehr zäh war. Das gab Gabriel allerdings viel Zeit zum Nachdenken.
Es war schon fast komisch gewesen, wie verblüfft er darüber gewesen war, dass die Hostess bei „Annabelle’s“ mit dem goldbraunen Haar, die von allen Männern bewundert wurde, Mallory war. Und genauso wenig gab es eine vernünftige Erklärung für die Betroffenheit, mit der er auf ihre Feindseligkeit reagiert hatte.
Er hatte Mallory in den vier Jahren, die er sie jetzt kannte, kein einziges Mal die Fassung verlieren sehen – nicht einmal, als ein ungeschickter Kellner Champagner über ihr teures Kleid geschüttet hatte oder als sie auf Meg Banders Halloween-Party ihren Vater mit einer ihrer Freundinnen in einer äußerst verfänglichen Situation ertappt hatte. Umso bemerkenswerter fand er also natürlich ihre plötzliche Wut und die offenkundige Verachtung, mit der sie ihn bedacht hatte.
Aber er war nicht etwa deswegen so betroffen gewesen, weil er, wie Annabelle’s entsetzter Geschäftsführer angenommen hatte, wütend oder beleidigt war. Während er gezwungen gewesen war, das scheinbar nie enden wollende Geschäftsessen wie geplant durchzuführen, hatte etwas seine sonst unerschöpfliche Geduld auf eine harte Probe gestellt: Die Traurigkeit, die sich hinter Mallorys Wut zu verbergen schien, hatte Gabriel erschüttert. Außerdem war ihm der Verdacht gekommen, ihre Verwandlung vom unbeschwerten Partygirl zum hart arbeitenden Mädchen bedeutete, dass er sich in ihr geirrt haben musste.
Aber ihm unterliefen keine Irrtümer. Er hielt sich zwar nicht für unfehlbar, doch seit frühester Jugend, seit seine Mutter gestorben war und er im reifen Alter von ganzen vierzehn Jahren die Verantwortung für acht Brüder hatte übernehmen müssen, waren Fehler ein Luxus gewesen, den er sich nicht leisten durfte. Das hatte sich auch während seiner Jahre bei einer Spezialeinheit beim Militär nicht geändert.
Er hätte sich kaum von
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