Wenn Die Nacht Anbricht
regeln würde.
»Nein, geht schon«, erwiderte ich. Ich richtete mich kerzengerade auf, zwang mich zu einem Lächeln und klopfte zweimal.
Als Lola Lowe die Tür öffnete, sagte sie »Leta Moores Mädchen«, anstatt uns zu begrüßen. Obwohl sie dünn war, hatte sie doch viel Haut, die überall weich herunterhing. Ihre Unter- und Oberarme zitterten, wenn sie sich bewegte. Ich versuchte, nicht hinzusehen. Überall waren Kinder. Es waren mehr Kinder als Möbel, die da standen, saßen oder auf dem Boden herumlümmelten und Schwarzer Peter spielten. Das Baby konnte ich nirgendwo entdecken.
Sie wohnten in einem Schindelhaus, das auf einem Betonsockel ruhte und nur aus einem Wohnzimmer und einer Küche bestand. Wenn ich meinen Kopf an die Außenwand gelehnt hätte, wäre ich in der Lage gewesen, durch die Löcher in den Schindeln zu schauen. Allerdings hätte es nicht viel zu sehen gegeben. Im Zimmer standen nur ein Ofen, zwei Schaukelstühle mit abgenutzten Sitzen, ein Tisch und Stühle und in einer Ecke ein schmales Eisenbett. Die Kinder schliefen vermutlich auf dem Boden.
Tess und ich hatten eine Stunde gebraucht, um auf den Baum zu klettern und genügend reife Äpfel für einen Korb zu pflücken. Eigentlich wären die Äpfel erst in einer Woche so weit gewesen und dann reif auf den Boden gefallen.
»Hallo, Mrs. Lowe«, sagte ich und streckte ihr den Korb entgegen. »Wir haben Ihnen ein paar Äpfel gebracht.«
»Das ist nett von euch«, erwiderte sie, wobei sie dastand und uns anstarrte, ohne zu lächeln. Sie wirkte eigentlich nicht, als wäre sie so begeistert von unserer Gabe, dass sie uns nun alles gestehen würde. Wir waren noch nie zuvor bei ihr gewesen, und Mama und sie waren eigentlich auch keine Freundinnen. Niemand war mit Mrs. Lowe befreundet. Sie blieb meistens mit den Kindern allein zu Hause. »Seid ihr gekommen, um Ellen zu besuchen?«
Ellen war in Tess’ Klasse. Sie besaß nur ein einziges Kleid, das so dünn wie Papier und mehr Flicken als Kleid war. Eigentlich hätten wir wissen müssen, dass Mrs. Lowe fragen würde, warum wir unangemeldet bei ihr auftauchten.
»Nein, Ma’am«, sagte ich. »Wir hatten nur ein paar Äpfel übrig und dachten, dass sie Ihnen vielleicht schmecken könnten.«
Noch immer kein Lächeln.
»Außerdem haben wir Ihr neues Baby noch nicht gesehen«, fügte Tess hinzu. »Ich hab gehört, dass er sehr süß sein soll.«
Tess lächelte, als sie das sagte, wodurch sich Grübchen in ihren Wangen bildeten. Gleichzeitig neigte sie den Kopf, so dass ihre Locken ein wenig zur Seite fielen. Ich hatte zwar gesagt, ich würde das Reden übernehmen, aber was Tess tat, hätte ich nicht gekonnt. Sie war in der Lage, ihren Charme wie ein Licht anzuschalten und die richtigen Worte selbstverständlich und auf liebenswürdigste Weise abzuspulen. Erwachsene tätschelten ihr dann den Kopf, lachten sie an und flüsterten Papa und Mama zu, wie klug sie doch sei und wie hinreißend. Sie musste sich nicht einmal Mühe geben. Es passierte einfach so. Meine Hände hingegen waren feucht, mein Mund fühlte sich trocken an, und meine Schultern schmerzten vor Verkrampfung, obwohl ich den ganzen Weg über wiederholt hatte, was ich sagen wollte. Tess schaltete einfach nur ihr Licht an.
Ich war so erleichtert, dass ich am liebsten losgeheult hätte.
Mrs. Lowe betrachtete uns noch einen Moment lang, ehe sie zurücktrat und die Tür weiter aufmachte. »Dann kommt mal rein.«
Ich ging als Erste ins Haus, und Tess folgte mir auf den Fersen. Lola Lowe hatte etwa halb so viele Ehemänner gehabt, wie sie jetzt Kinder hatte. Sie starben ihr immer wieder weg. Der fünfte war gerade in Kentucky und versuchte, dort Arbeit zu finden. Einer fiel eines Tages einfach tot um, ein anderer erstickte an einem Hühnerknochen, ein weiterer wurde eines Nachts von einem Wagen überfahren, als er nach Hause ging. Was mit dem vierten geschehen war, wusste ich nicht mehr.
Mrs. Lowe nahm den Korb und trug ihn in die Küche hinüber, die eigentlich nur eine Ecke des Zimmers war, in der ein Regal, der Tisch und der Herd standen. »Wollt ihr den Korb gleich zurück? Ich kann die Äpfel rausnehmen.«
Es war nur ein altes Ding, dessen Rand bereits stark abgerieben war. »Das hat keine Eile, Ma’am. Behalten Sie ihn einfach, bis Sie die Äpfel gegessen haben«, sagte ich.
»Setzt euch«, lud sie uns ein.
Um den Tisch standen vier Stühle mit Sitzen aus geflochtenem Korb. Ich zog einen heraus. Tess ebenfalls. Mrs. Lowe nahm einen
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