Wenn Die Nacht Anbricht
beide. Mama hatte noch nie erwähnt, dass sie Lola Lowe als Mädchen gekannt hatte. Aber Mama redete nicht viel über ihre Kindheit.
»Ich hab sie kennengelernt, als ich etwa in deinem Alter war«, sagte Mrs. Lowe und nickte Tess zu. Ich vermutete, dass sie nicht wusste, wie wir hießen, aber jetzt war es zu spät, uns vorzustellen. »Sie hatte die längsten Zöpfe, die ich jemals gesehen hab.«
»Unsere Haare werden nicht so lang«, erklärte Tess. »Sie wachsen bis zu den Schultern, und dann hören sie auf.«
Mrs. Lowe fuhr fort, als hätte Tess nichts gesagt. »Sie war ein sehr hübsches Mädchen. Auch sehr lieb. Eines der wenigen Mädchen, die ich in der Schule geachtet hab. Natürlich ist sie dann in die Oberschule gegangen und hat sie beinahe abgeschlossen, während ich nach der Mittelschule aufhörte und meiner Mama half. Nicht einmal ein Jahr später hab ich meinen ersten Mann geheiratet.«
Sie konnte also kaum älter als ich jetzt gewesen sein, als sie das erste Mal heiratete.
»Eure Mama hat mir einen Kuchen zur Hochzeit gebracht. Niemand sonst hat mir was geschenkt. Das hab ich ihr hoch angerechnet. Grüßt sie herzlich von mir.«
Ein kleines Mädchen, das sich noch kaum aufrecht auf den Beinen halten konnte und nichts trug außer ein paar Lumpen, die um ihren Po gewickelt waren, kam unsicher wackelnd auf Mrs. Lowe zu. Urin lief ihr über ein Beinchen und tropfte auf den Boden. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie fing zu wimmern an.
»Gütiger Himmel!«, sagte ihre Mutter und hob sie hoch, ohne sie jedoch an sich zu drücken. Stattdessen nahm sie ein fleckiges Tuch – wahrscheinlich frisch gewaschen – von einem Stapel Wäsche, der in der Ecke lag, und breitete es auf dem Tisch aus, an dem wir saßen. Als sie die Windel aufzumachen begann, schob ich meinen Stuhl zurück und wandte das Gesicht ab. Der Urin war bereits durch den Stoff auf den Esstisch getropft.
Ich sah zu, wie Mrs. Lowe das Tuch um den Po des Kindes wickelte und dann in der Tasche ihres früher einmal sicher mit Blumen bedruckten Kleides nach Sicherheitsnadeln fischte. In ihrer Miene war nicht die geringste Andeutung schlechter Laune zu entdecken. Sie wirkte genauso ruhig und gelassen wie zuvor, als wir hereingekommen waren, und schien sich weder am Urin noch den Flecken oder dem Weinen zu stören.
Ich hatte sie für die wahrscheinlichste Kandidatin auf unserer Liste gehalten, weil sie am wenigsten Geld und die meisten Kinder hatte. Also würde sie am meisten leiden, hatte ich angenommen. Sie hatte wenig mit den anderen Frauen zu tun – vielleicht nicht bewusst, aber sie hielt sich auf jeden Fall zurück. Natürlich hatte ich, sobald wir das Baby gesehen hatten, gewusst, dass ich mich geirrt hatte. Aber nun schämte ich mich fast dafür, so gedacht zu haben. Meine Zunge fühlte sich dick an, und mir wurde so heiß, wie wenn mich die Lehrerin in der Klasse aufrief oder wie bei meinem Heimweg in Begleitung von Henry Harken. Ich sagte mir, dass ich mich mal wieder töricht benahm, wie Ella immer behauptete. Aber das nützte nichts. Das Gefühl wurde nur noch stärker. Mein Magen verkrampfte sich zu einem harten Ball, während ich dasaß und das Baby auf meinem Schoß dabei beobachtete, wie es seine Faust in den Mund steckte.
Es wäre leichter für mich gewesen, das mit dem Kind im Brunnen zu verstehen – und dann zu vergessen –, wenn es Mrs. Lowe gewesen wäre, die es dort hineingeworfen hatte. Dann hätte ich gewusst, dass einem das Kinderkriegen allein nicht den Verstand raubte, sondern nur wenn man ein ganzes Haus voller Kinder bekam. Es wäre auch nicht so gewesen, dass es eine Frau getan hatte, die sonst in unserer Küche saß und Tee mit uns trank. Lola Lowe war in meiner Vorstellung kaum ein echter Mensch gewesen. Zumindest nicht, bis ich in ihr Haus gekommen war und gesehen hatte, wie sie ihre Kinder anlächelte. Ich begann, das Problem zu begreifen, das mein Plan in sich barg: Ich würde all die Frauen kennenlernen, wenn ich lange genug mit ihnen redete. Und dann würden sie für mich alle zu echten Menschen werden.
Ein blonder Junge, dem die Haare fast in die Augen fielen, legte seine Hände auf meine Knie. Dickflüssiger gelber Rotz lief ihm aus der Nase, und auf seinen Wangen klebte Schmutz. Ich hatte ein Taschentuch in meiner Tasche und hielt das Baby so, dass ich das kleine Stoffrechteck herausholen und ihm geben konnte. (Mama sagte immer, dass eine Dame niemals ohne Taschentuch sein sollte.) Er sah mich an,
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