Wenn Die Nacht Anbricht
als hätte ich ihm gerade violette Galoschen überreicht. Also wischte ich ihm die Nase mit dem Tuch ab und legte es ihm dann in die kleine Hand.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Er murmelte etwas und rieb sich mit dem Ärmel über die Nase, so dass ich ihn nicht verstehen konnte. »Was hast du gesagt?«, fragte ich.
»Mark.«
»Nach dem Apostel«, sagte seine Mutter, die einen Blick über ihre Schulter warf.
»Ich bin Virgie.«
Er starrte mich an. Ich zeigte auf Tess. »Und das ist meine Schwester Tess.«
»Wie alt bist du?«, fragte Tess.
Er sah seine Mutter an. »Sechs«, antwortete sie.
Ein Jahr jünger als Jack, und er war nicht einmal halb so groß wie dieser. Im Grunde sah er aus, als hätte er gerade erst die Windeln abgelegt. »Kannst du denn schon sechs Finger hochhalten?«, wollte ich wissen und streckte hinter dem Rücken des Babys selbst sechs Finger in die Höhe.
»Sechs«, sagte er. »Ich bin sechs.« Er ließ das Taschentuch nicht los, das ich ihm gegeben hatte, und bewegte auch seine Finger nicht. »Äpfel«, sagte er und zeigte auf den Korb. »Ich mag Äpfel.«
»Er mag alles«, erklärte Mrs. Lowe und bewegte dabei nur die eine Seite ihres Mundes, da sie in der anderen eine Sicherheitsnadel zwischen die Zähnen geklemmt hatte. »Keines der Kindes ist heikel.«
»Was gibt’s zum Essen, Mama?«, erkundigte sich Mark und wedelte mit dem Taschentuch. Er wirkte nicht sonderlich neugierig. Seine Nase hatte wieder zu laufen begonnen.
»Heidelbeeren und Brot.«
Seine Miene blieb genauso ausdruckslos wie zuvor.
»Ich liebe Heidelbeeren«, sagte Tess.
»In einem Kuchen schmecken sie besser«, meinte Mark.
»Ich mag sie auch so«, entgegnete sie.
»Ich früher auch.«
Ich hatte sowohl von Papa als auch von Mama gehört, dass so mancher, der keine Arbeit finden konnte, schon lange verhungert wäre, wenn es nicht Heidelbeeren und Brot gäbe. Die beiden überlegten dann immer, ob Mama diesen Leuten denn nicht zur Abwechslung einmal richtiges Essen vorbeibringen könnte.
In diesem Moment begann das kleine Mädchen auf dem Tisch zu weinen. Wahrscheinlich störte sie die kalte Luft an ihrem nassen Po. Das Baby in meinem Arm schien ihre schlechte Stimmung aufzunehmen. Es fing an, sein Gesicht zu verzerren und zu wimmern. Also stand ich auf und lief wieder im Zimmer herum. Da wurde die Tür geöffnet, und Ellen kam herein. Sie war sichtlich überrascht, Tess und mich zu sehen. Sie zupfte an ihrem Kleid, und ich konnte genau sehen, was sie dachte – als stünden ihre Gedanken in einer kleinen Blase über ihrem Kopf geschrieben, so wie in Kleine Waise Annie. Ihr war klar, wie wir das alles erlebten: ihre Mutter, die auf dem Küchentisch eine Windel wechselte, ihr Bruder mit getrocknetem Rotz im Gesicht und unser Korb mit Äpfeln das einzig Essbare, das weit und breit zu sehen war. Im Ofen brannte auch kein Feuer, und ich wusste, dass sie weder Holz noch Kohle hatten, um etwas zu kochen. Es war eine Sache, so arm wie eine Kirchenmaus zu sein, aber etwas ganz anderes, wenn ein Fremder kam und alles begutachtete. Sie begrüßte uns, ohne uns anzusehen, und streckte dann die Arme aus, um mir ihren kleinen Bruder abzunehmen. Sobald ich ihn ihr gegeben hatte, verzog sie sich in eine Ecke des Zimmers. Danach blieben wir nur noch wenige Minuten. Ellen sah uns dabei kein einziges Mal in die Augen.
Auf dem Nachhauseweg redeten wir kaum ein Wort. Ich fühlte mich schmutzig und traurig und war froh, dass ich diesem Jungen mein Taschentuch dagelassen hatte.
Tess
Es wäre angenehmer gewesen, sich vorzustellen, dass Lola Lowe einmal eine Wiege voller Eier gehabt hätte und alle Kinder gleichzeitig geschlüpft wären. Der Gedanke, alle zehn großäugigen Kinder, die nur aus Knien und Ellbogen zu bestehen schienen, waren aus ihrem Bauch gekommen, tat mir weh. Es war viel netter, sich auszumalen, wie sie ursprünglich sicher in einem Ei gelegen hatten und von einem weichen Körper gewärmt worden waren.
»Warum bekommt jemand so viele Kinder?«, fragte ich Virgie. Nachdem wir nach Hause gekommen waren, hatten wir uns auf die Verandastufen gesetzt. Niemand hatte uns bisher bemerkt. Ich versuchte, einen Schwefelfalter dazu zu bringen, auf meinem Finger zu landen. Aber er war nicht interessiert.
Virgie zuckte mit den Achseln. Ihre Hände lagen verschränkt in ihrem Schoß.
Also redete ich weiter. »Ich versteh nicht, wie man so viele haben kann, wenn man nichts zu essen hat.«
»Ich glaub nicht, dass sie
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