Wenn Die Nacht Anbricht
dritten Stuhl. Zwischen zwei Beinen war eine Schnur gespannt. Sie bemerkte, wie ich darauf starrte.
»Die Jungs haben ihre Füße immer auf die Holzleiste gestellt, bis sie gebrochen war«, erklärte sie. »Mit einer Schnur kann man die Beine genauso gut zusammenhalten. Tut mir leid, dass wir kein Sofa haben.«
»Wir haben auch keins«, sagte Tess hastig. »Nur Schaukelstühle. Und mein Bruder ist genauso. Der macht immer alles kaputt. Jungs machen immer Schwierigkeiten.«
Mrs. Lowe musste lächeln. Wahrscheinlich lächelte sie nicht wegen dem, was Tess gesagt hatte, sondern weil sie dabei auf eine so ernste, erwachsene Weise den Kopf geschüttelt hatte.
Dann saßen wir da und sahen einander an, und ich überlegte, was ich noch zum Thema Sofa oder Stühle oder Äpfel sagen könnte. Es herrschte eine andere Art der Stille als bei uns zu Hause. Wenn bei uns keiner redete, war das angenehm und friedlich – wie nachts, nachdem die Vögel und Heuschrecken eingeschlafen waren. Bei der Stille hier wäre ich jedoch am liebsten vom Tisch aufgesprungen und bis nach Jasper gerannt.
»Ihr wollt also das Baby sehen?«, fragte Mrs. Lowe nach einer Weile.
»Ja!«, antworteten wir beide viel zu laut und viel zu schnell. Es klang, als wollten wir es entführen.
Der kleine Junge lebte, und es ging ihm gut. Wie sich herausstellte, war er ein bisschen pausbäckig und mehr als ein bisschen rot. Mrs. Lowe hielt ihn so, wie Mama immer Jack gehalten hatte, und ich dachte darüber nach, wieso alle Frauen zu wissen schienen, wo sie ihre Hände hinlegen und wie sie die Füßchen und Knie und Ellbogen an sich drücken mussten, damit alles bequem verstaut war. Mama hatte mir erklärt, dass ich Jacks Hals niemals umknicken und seinen Kopf nie nach hinten fallen lassen dürfe. Ein- oder zweimal passierte es trotzdem, und ich betete, dass sein Gehirn nicht zu sehr geschüttelt worden war und aus seiner Nase auslaufen würde.
»Er heißt Franklin, aber wir nennen ihn Frankie.« Mrs. Lowe drehte ihn ein wenig nach unten, so dass wir sein Gesicht besser sehen konnten. »Ist er nicht ein großer, fröhlicher Kerl? Und erst vier Monate alt.«
Er war groß, aber auch erschreckend still. Ich konnte mich nicht daran erinnern, Jack jemals so still erlebt zu haben. Wenn er nicht gerade weinte, gurrte und gurgelte Jack oder gab alberne Sprudelgeräusche von sich. Aber Mrs. Lowe lächelte ihren Jungen an – mir fiel auf, dass sie einen angeschlagenen Vorderzahn hatte. Es schien sie nicht zu stören, dass er sich so zurückhielt. Ich nahm an, sie war froh, ein ruhiges Kind zu haben.
»Kann ich ihn mal halten?«, fragte ich.
»Ja«, erwiderte sie und streckte ihn mir, ohne zu zögern, entgegen. Ich schob meinen Arm unter seinen Rücken, fasste sein Köpfchen so, wie mir Mama das erklärt hatte, und zog ihn an meine Brust. Dann jedoch wusste ich nicht, was ich als Nächstes machen sollte. »Möchte er lieber, dass ich sitze oder dass ich stehe?«, fragte ich.
»Egal«, erwiderte sie. »Schaukle ihn nur ein bisschen hin und her.«
Das tat ich und lief in einem wiegenden Gang durchs Zimmer. Ich hatte weder Mrs. Stantons noch Mrs. Torrences Baby gehalten, als wir bei ihnen vorbeigeschaut hatten. Wir hatten die beiden zuerst aufgesucht, da sie am nächsten bei der Schule wohnten. (Auf dem Weg zu den Frauen war mir vor Aufregung beinahe übel gewesen. Als wir schließlich zu Lola Lowe kamen, hatte ich die Übelkeit zumindest insoweit überwunden, als ich inzwischen schon recht natürlich »Hallo« sagen konnte, wenn die Tür geöffnet wurde.) Mrs. Stanton saß sogar draußen auf der Veranda und wiegte gerade ihren kleinen George in den Armen, so dass wir nur vorbeilaufen, ihr zuwinken, »Oh« und »Ah« rufen und ihr erklären mussten, wie niedlich er doch sei, obwohl er die Stirn runzelte und ganz faltig war. Bei keiner der beiden blieben wir mehr als fünf Minuten und mussten auch nicht das Haus betreten. Diesmal war die Situation vertraulicher, deshalb mussten wir uns mehr Mühe geben.
»Er ist sehr lieb«, sagte ich.
»Ja. Keine Koliken, nichts. Einfach nur süß.«
Ich setzte mich wieder und wippte auf dem Stuhl vor und zurück. Frankie schien zufrieden zu sein. Tess stellte sich hinter mich und streichelte über den Pfirsichflaum auf seinem Kopf.
»Eurer Mama geht’s gut?«, fragte Mrs. Lowe.
»Ja, Ma’am«, antwortete Tess.
»Wusstet ihr, dass wir in Townsley zusammen zur Schule gegangen sind?«
»Nein, Ma’am«, antworteten wir
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