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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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einen Kühlschrank oder neue Schuhe und Kleider dringender brauchten als eine Uhr. Der Cousin kam nie zurück. Er zog mit dem ganzen Geld, das er von seinen Verwandten zusammengestohlen hatte, nach Tennessee. Papa war nicht einmal wütend auf ihn. »Man ist auf der Welt, um zu geben, nicht um zu nehmen«, sagte er oft.
    Er selbst nahm niemals etwas. Insgesamt schien er sich und sein Verhalten mit anderen Maßstäben zu messen als das Verhalten der übrigen Leute.
    Mama hingegen setzte sich selten mit der Frage von Gut oder Böse auseinander – es sei denn, es geschah unter unserem Dach. Sie war niemand, die Jammern mochte. Aber wenn einer von uns sagte, er sei zu erschöpft, um weiterzuarbeiten, dann übernahm sie die jeweilige Aufgabe, wobei sie höchstens sagte: »Na ja. Dann setz dich mal hin.«
    Ich hörte nie, wie Mama erklärte, müde oder erschöpft oder frustriert zu sein, obwohl sie auch dann noch arbeitete, wenn Papa im Schaukelstuhl saß und seine Zigarette rauchte. Einmal bemerkte ich eine leuchtend rote Blase auf ihrer Hand. Sie war so fest gespannt, dass es aussah, als würde die Haut jeden Augenblick reißen. Ich sprach sie darauf an, und sie erzählte, sie habe sich am Tag zuvor an einer heißen Pfanne verbrannt. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich in den Stunden, in denen das geschehen sein musste, irgendetwas bemerkt hätte. Sie war weder vom Herd zurückgezuckt, noch hatte sie »Aua« gesagt.
    Manchmal kam es mir so vor, als hätte man irgendwann statt der Kohle Papa und Mama in einen großen Ofen gesteckt. Doch anstatt zu verbrennen, waren sie nur härter im Nehmen geworden.
     
    Albert
    Wir fuhren mit dem Wagen. Virgil erklärte, dass er noch nie in einem gesessen habe, und da es dunkel war, ließ ich ihn neben mir Platz nehmen. Auf dem Weg zum Gefängnis hielt ich ein paar Straßen vor seinem Haus an und ließ ihn aussteigen.
    Ich kreuzte nicht zum ersten Mal um diese nächtliche Stunde bei der Polizeistation auf. Es kam mir stets seltsam vor, dass ein so nichtssagend aussehendes Gebäude das Leben eines Menschen derart auf den Kopf zu stellen vermochte. Es war im Grunde nur eine Schachtel aus Ziegelsteinen. Ein paar Stufen führten zum Eingang hinauf, und auf einer Seite waren drei Fenster – alle vorne, hinten gab es keine. Das Haus hatte ein flaches Dach. Ich hielt direkt vor der Tür, da nirgendwo ein anderer Wagen parkte. Der Sheriff ging immer zu Fuß zur Arbeit.
    »Ich hätte dir Kaffee mitbringen sollen, Ted«, sagte ich und trat ein, nachdem er mir auf mein Klopfen hin die Tür geöffnet hatte. »Ist nachts nicht sonst dein Stellvertreter da?«
    Er setzte sich an seinen Schreibtisch, der so riesig war, dass er dahinter wie ein Schuljunge in kurzen Hosen aussah. Ted Taylor war eigentlich kein schlechter Mensch, aber auch kein besonders guter. Er wusste, dass ich zahlen würde, um Jonah herauszuholen, genauso wie er wusste, dass Jonah nichts Falsches getan hatte. Vermutlich hatte er nur nicht oft genug »Sir« gesagt, als Ted ihn fragte, wohin er unterwegs war.
    »Mein Stellvertreter liegt krank im Bett«, sagte er. »Ich halt hier seit ein paar Nächten die Stellung.«
    Ich sah, dass Jonah aufrecht in seiner Zelle saß. Er wirkte, als würde er eher auf eine Messe in der Kirche als auf mich warten. Er sagte nichts, lächelte auch nicht, ja er nickte kaum. Ich verhielt mich genauso und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf den Sheriff. »Wie geht’s Frau und Kindern?«
    »Kann nicht klagen. Mein Ältester ist nach Tupelo, um dort Arbeit zu suchen. Und selber?«
    »Auch gut.«
    »Schön. Also, ich nehm an, du bist wegen ihm hier«, meinte er und wies mit dem Kopf auf Jonah, sah ihn dabei aber nicht an. Ted war deutlich kleiner als ich und hatte einen derart breiten Brustkorb, dass einem seine Arme irgendwie zu kurz vorkamen. Sein Bauch war nur wenig kleiner als seine Brust, und die Knöpfe an seinem Hemd sahen immer aus, als würden sie jeden Moment abspringen. Ich hielt ihn für einen dieser Männer, die richtig wütend waren, weil sie nicht größer wurden, und beschlossen hatten, stattdessen in die Breite zu gehen.
    »Genau«, erwiderte ich. »Einer von meinen Männern ist zu mir nach Haus und hat mir gesagt, dass du ihn wegen eines Vorfalls hergebracht hast.«
    »Er hat so nach Whiskey gestunken, dass ich’s schon von der Straßenseite riechen konnte.«
    Ich ging zu Jonah hinüber, der noch immer dasaß und auf die Tür starrte. »Ich kann nichts mehr riechen, Ted. Scheint

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