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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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an den Armen hoch, um ihm in die Augen zu sehen. Jack war so verblüfft, dass er sich nicht rührte – und auch nicht zu weinen begann.
    »Woher hast du das?«, fragte Papa so kalt, als wäre er ein Fremder.
    Jack antwortete nicht.
    »Sag nie mehr, dass du jemand hasst«, fuhr Papa fort und schüttelte Jack so heftig, dass sein Kinn wackelte. »Gott will nicht, dass wir andere hassen.«
    Jack hatte seinen Mund noch immer geschlossen. Jetzt standen ihm allerdings Tränen in den Augen, während seine nackten Füße in der Luft hingen. Sie zuckten nicht einmal. Mama war inzwischen neben mich getreten. Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Papa sah sie an und stellte Jack sanft wieder auf den Boden. Dann zog er seine Hände weg und betrachtete die roten Abdrücke, die er auf Jacks Oberarmen hinterlassen hatte. Er wirkte so, als würde es ihm leidtun. Trotzdem schwieg er. Nach einer Weile nickte er in Virgils Richtung.
    »Entschuldige dich bei Mr. Virgil«, erklärte er.
    »Entschuldigung, Mr. Virgil«, sagte Jack, der in Papas Schatten stand.
    »Danke, Sir«, antwortete Virgil Jack. Er klang ernst und beschämt und verwirrt. Alles auf einmal.
    Papa tätschelte Jack den Kopf, warf Mama noch einmal einen Blick zu, zog dann die Stiefel fertig an und trat zu Virgil hinaus. »Bin bald zurück«, sagte er über seine Schulter.
    Als die Tür ins Schloss gefallen war, trat Mama zu Jack und kniete sich vor ihn hin. Er hatte zu schniefen begonnen und rieb sich die Augen. Sie strich ihm über die Haare und nahm ihn in die Arme. »Wein nicht, mein Sohn. Du bist ein guter Junge, und dein Papa ist nicht mehr wütend auf dich. Aber du weißt, dass man nichts Hässliches über andere Leute sagen darf. Wir haben dich nicht zu einem solchen Jungen erzogen. Verstehst du?«
    Manchmal machte Mama so etwas: Sie tröstete einen über den Schmerz hinweg und machte ihn dadurch nur noch schlimmer. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie auf einen von uns wütend gewesen wäre, aber sie zu enttäuschen war schmerzhafter als ein Dutzend Schläge von Papa – sogar mit dem Gürtel. Tatsächlich liefen Jack erst jetzt, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, die Tränen über die Wangen. Mama hob ihn hoch, ächzte ein wenig unter seinem Gewicht und trug ihn zu seinem Bett zurück. Sie deckte ihn zu, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sorgte dafür, dass er sich nicht in den Schlaf weinen würde. Zu mir und Virgie sagte sie: »Kommt, Mädchen. Zurück ins Bett mit euch. Nur noch ein paar Stunden. Dann ist es schon wieder hell.«
    »Papa hat auch nicht viel Schlaf gekriegt«, meinte Virgie. Sie sah noch immer auf die Haustür und runzelte die Stirn.
    Meine Schwester würde auch noch im Himmel, wenn sie auf ihrer weißen Wolke saß, etwas finden, worüber sie sich Sorgen machen konnte.
    Mama warf ebenfalls einen Blick auf die Tür und ließ dann ihre Schultern kreisen. Ich beobachtete sie und Virgie, wie sie einen Moment vor sich hin starrten, und als ich gähnen musste, bemühte ich mich, es leise zu tun. Es kam mir so vor, als würde gleich etwas Wichtiges gesagt werden.
    Mamas Gesicht lag im Schatten, so dass ich ihre Miene nicht sehen konnte. »Das macht eurem Papa nicht viel aus«, sagte sie. »Es braucht mehr als zu wenig Schlaf, um ihm was anzuhaben. Aber …« Jetzt wurde sie so leise, als redete sie mit sich selbst, offenbar sollten wir eigentlich nicht hören, was sie jetzt sagte. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten. »Ich könnte mir vorstellen, dass er es leid ist, immer wieder zur Polizei zu müssen und diese Leute aus dem Gefängnis zu holen.«
    Weder Virgie noch ich sagten ein Wort. Schweigend kehrten wir ins Bett zurück und balgten uns noch eine Weile darum, wer den größeren Teil der Decke bekam, bis wir schließlich Ruhe gaben.
    »Sie will nicht, dass er Mr. Benton hilft«, flüsterte ich Virgie zu. Sie wedelte vor meinem Gesicht hin und her, weil ich zu nahe an ihr Ohr gerückt war, was sie ein wenig kitzelte und sehr viel mehr ärgerte.
    »Sie will nur nicht, dass er zu müde wird«, erwiderte sie. Die Vorstellung, dass Mama und Papa einmal nicht gleicher Meinung sein könnten, gefiel ihr nicht.
    »Glaubst du, sie hatte was dagegen, dass er Jack einen Klaps gegeben hat?«, fragte ich, wobei ich etwas von ihrem Ohr abrückte.
    Sie drehte sich so schnell um, dass sie mir den Ellbogen in die Seite rammte. »Er hat gesagt, dass er diese Leute hasst«, erwiderte sie. Als wäre damit alles erklärt. Vermutlich war es das

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