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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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auch.
    »Glaubst du, dass die Frau eine Schwarze war?«, flüsterte ich. Sie wusste, wovon ich sprach.
    »Wie kommst du darauf?«, flüsterte sie zurück.
    »Ist doch irgendwie wahrscheinlicher – oder? Mama hat gesagt, dass sie anders sind als wir und nicht die gleichen Werte haben.«
    Mama hatte erklärt, dass die schwarzen Männer mit mehr als einer Ehefrau zusammenlebten und manchmal sogar mit ganzen Familien in verschiedenen Lagern hausten. Wenn Virgie, Jack und ich in der Nähe von Nigger Town vorbeikamen, brüllten uns die Kinder von dort etwas zu. Ich schrie zurück und nannte sie Schokodrops, und dann rannten wir davon. Wenn Erwachsene bei uns waren, brüllte niemand. Irgendwie wäre es leichter gewesen, sich vorzustellen, dass nicht so sehr eine Frau, sondern eine Schwarze dahintersteckte. Denn dann hätte sich letztlich nicht viel geändert. Es würde bedeuten, dass diese Hässlichkeit nichts mit uns zu tun hatte, sondern nur in dem kleinen Viertel der Stadt existierte, wo die Schwarzen lebten.
    Virgie dachte eine Weile nach. »Papa sagt, dass alle gleich sind, wenn sie erst mal Kohlenstaub an sich haben. Dann weiß man nicht mehr, wer schwarz und wer weiß ist. Außerdem mag er Mr. Benton.«
    Ich schwieg eine Weile, und Virgie fing zu schnauben an. »Du glaubst doch wohl nicht, dass niemand gemerkt hätte, wenn das Baby schwarz gewesen wär, als wir es aus dem Brunnen geholt haben?«
    Sie hielt sich für so unglaublich klug. Aber ehrlich gesagt, wusste ich auch nicht genau, wie das überhaupt funktionierte. Ich wusste, dass Schweine Ferkel bekamen und Hennen Küken. Aber manchmal war die Mama-Henne gefleckt und das Küken nicht. Oder umgekehrt. Die Katze, die wir in der Scheune hielten, hatte einmal ein wunderschönes graues Kätzchen in ihrem Wurf, wodurch die anderen gewöhnlich braunen viel weniger niedlich wirkten. Die Hudsons hatten einen hübschen grauen Kater.
    »Na, ja. Der Vater könnte doch weiß sein – oder nicht?«, flüsterte ich schließlich.
    Sie gab keine Antwort.
    »Und das wär auch ein guter Grund, das Baby zu töten, oder?«
    »Zeit zum Schlafen. Seid endlich still«, rief Mama aus ihrem Bett. Also sagten wir nichts mehr.
     
    Virgie
    Für Papa war das Gute etwas, das man mit Händen greifen konnte. Fest und griffig wie ein Stück Kohle. Man konnte es abwiegen, messen, seinen Anfang und sein Ende erkennen: Man durfte niemals einen anderen hassen. Man musste alle Erwachsenen mit »Ma’am« und »Sir« anreden, wenn man ihnen antwortete. Man musste Mama helfen, ohne dass sie einen darum bat. Man durfte weder Papa noch Mama jemals nicht gehorchen. Wenn man diesen Regeln folgte, war man gut. Wenn man es nicht tat … Ich wusste nicht, was dann geschah. Keiner von uns kam auf die Idee, diese Regeln nicht zu befolgen, obwohl Jack und Tess manchmal Schläge bekamen, weil sie Papa gegen sich aufbrachten. Ich hörte, wie er von Männern erzählte, die ihre Familien verlassen hatten – einfach so, ohne ein einziges Wort. Oder es gab Frauen, die sich weigerten, die Mutter ihres Mannes bei sich aufzunehmen, wenn diese zu alt und gebrechlich wurde, um noch alleine zu leben. Das waren Dinge, die unverzeihlich waren.
    Es hatte etwas Beruhigendes, genau zu wissen, was Papa wollte, was er erwartete und was ihn enttäuschen würde. Aber es bedeutete auch oft, dass es sinnlos war, mit ihm zu reden, denn er kannte sich selbst so genau, dass er nicht noch wissen musste, wer man selbst war.
    Für Papa gab es noch mehr Unverzeihliches, das man niemals tun durfte. Es gab einen alten schwarzen Mann namens Old Romy, der immer wieder an unsere Tür kam und sagte, dass er Hunger habe. Früher, als Papa noch jung gewesen war, hatte er einmal mit ihm in den Gruben gearbeitet. Wenn Old Romy kam, suchte ihm Papa jedes Mal ein Huhn aus und drehte dem Huhn den Hals um, selbst wenn wir seit Wochen selbst kein Huhn mehr gegessen hatten. Niemand kam jemals an unsere Tür und bat um Essen, ohne dass Papa ihm oder ihr etwas gegeben hätte. Im Grunde konnte man Papa um alles bitten, und er gab es einem. Nachdem alle ihre Arbeit und ihre Geschäfte verloren hatten, kam eines Tages unser Cousin an unsere Tür und bat um die Taschenuhr aus Gold, die einmal Papas Vater gehört hatte. Der Cousin erklärte, er wolle mit der Uhr und etwas Schmuck nach Birmingham fahren, um die Sachen dort zu verkaufen. Dann würde er uns das Geld bringen, das er dafür bekommen hatte. Papa gab ihm also die Uhr, weil wir seiner Meinung nach

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