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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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beleidigen.«
    »Ich bin nicht beleidigt«, erwiderte ich. Die Straßenlaternen warfen nur wenig Licht auf die Straße. »Ich weiß nur ein paar Dinge: Ich weiß, dass mich Ted Taylor bestimmt nicht verhaftet hätte, nur weil ich durch die Gegend lauf. Ich weiß, dass man mich als ›Mr. Moore‹ anspricht, während du nie eine Anrede vor deinen Namen gesetzt bekommst. Ich weiß auch, dass man einem weißen Mann keinen Barackenscheucher auf den Hals hetzt, damit die nachsehen, ob er wirklich krank ist. Kein Steiger würde es wagen, Leta einen anzüglichen Blick zuzuwerfen. Und ich weiß, dass ich neben dir arbeite, seitdem Tess auf der Welt ist, und dich kein einziges Mal faul oder betrunken erlebt hab.«
    Wir fuhren schweigend weiter. Beide mussten wir uns von den vielen Worten erholen, sie entkernen und sortieren, um ihre volle Bedeutung zu begreifen.
    »Sind ein seltsamer Vogel, Albert«, meinte Jonah schließlich. »Einer mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Aber auch seltsam.«
    Ich hielt an der Kreuzung, wo seine Straße auf die Hauptstraße traf. Ehe er die Tür öffnen konnte, sagte ich seinen Namen. Er drehte sich zu mir um.
    »Du hast ja gehört, was Ted über das tote Baby gesagt hat«, meinte ich. »Hast du was gehört, das ich wissen sollte? Zum Beispiel über die Mutter?«
    Er zog die Hand von der Türklinke zurück. »Nein, nichts.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine solche Frau unauffällig verhält. Das muss sie doch quälen. Dir sind in letzter Zeit keine … na ja … sagen wir mal … verstörten Frauen aufgefallen?«
    »Sie wissen, dass ich keinen Kontakt mit weißen Frauen hab, Albert. Und falls doch, dann sind sie immer verstört. Was schwarze Frauen betrifft …« Sein Tonfall änderte sich. Er klang harscher, als ich das von ihm kannte. »Die haben ihre eigenen Gründe, verstört zu sein.«
    »Du hast nicht die leiseste Ahnung, wer’s getan haben kann?«
    Er schüttelte den Kopf, und ich glaubte ihm. Ich selbst hatte auch so viel Ahnung wie der Blinde von der Farbe.
    »Ich hab mir so meine Gedanken gemacht«, meinte er zu meiner Verblüffung.
    »Ja?«
    »Es muss eine traurige Frau sein, die so was tut, Albert. Keine gemeine oder hinterhältige. Das eigene tote Kind nehmen und in einen Brunnen werfen, der guten Leuten gehört … Das heißt meiner Meinung nach was. Nämlich, dass sie vermutlich ein bisschen verrückt ist, aber vor allem sehr traurig.«
    Er hielt inne und schwieg. Nach einer Weile sagte ich: »Warum denkst du das?«
    »Ich glaub, dass sie mit diesem Leben abgeschlossen hat. Und wenn dieses Leben nichts mehr bedeutet, dann bedeutet dieser kleine Körper auch nichts mehr. Sie ist so weit, dass sie ans nächste Leben denkt. Ein Leben, wo sich das Baby genauso wenig um seinen Körper sorgen muss wie sie selbst.«
    Ich verstand, was er damit sagen wollte. Es beantwortete zwar keine einzige meiner Fragen über das Wer und das Warum, aber es war ihm wesentlich besser als mir gelungen, in die Frau hineinzublicken. Das musste ich neidlos zugeben, und es machte mich nicht gerade stolz. Was es sonst mit mir machte, wusste ich allerdings auch nicht. »Das klingt einleuchtend, Jonah.«
    Aus irgendeinem Grund öffnete ich erneut meinen Mund, ehe er aussteigen konnte.
    »Hast du gehört, dass sich Jesse Bridgeman umgebracht hat?«
    Jonah nickte.
    »Ich muss immer wieder dran denken. Ich bin ihm mindestens einmal in der Woche auf der Straße begegnet und hab ihn immer sonntags auf dem Weg zur Kirche gesehen. Aber das hätte ich nie gedacht. Hab das Gefühl, als hätte ich nur eine Hülle von ihm gesehen, die nichts bedeutet und einfach weggeworfen wurde. Nur wusste ich nie, dass es bloß eine Hülle war. Hab nie dran gedacht, dass man die abschälen oder aufmachen muss, um zu sehen, was drunter ist.«
    Er lächelte. Es blitzte weiß auf, was ich in den Gruben selten sah. Ich blickte ihm in die Augen. Sie waren tief und dunkel – fast wie die von Leta und den Kindern, dachte ich –, und ich zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass sie meinen Blick erwiderten. Am meisten erschütterte mich, dass sie um drei Uhr morgens so klar waren und kein Rot in sich hatten. Ich spürte, wie ich innerlich erzitterte – so wie wenn mir Leta etwas in ihren schlichten Worten erklärte und ich verstand, dass ihre Augen Welten wahrnahmen, die meine niemals auch nur flüchtig zu sehen bekommen würden.
    Jonahs Lächeln ließ ihn älter und nicht glücklicher erscheinen. »Von so was hab ich

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